Olympische Gänsehaut-Momente V: 100m in 11,9

Da hab ich lange überlegt, ob ich diesen Gänsehaut-Moment in die Netzecke stelle. Schließlich hatte er ja später Nandrolon in der Zahncreme. Ich fiel damals aus allen Wolken, als ausgerechnet Dieter Baumann positiv getestete wurde. Nicht, dass ich naiv bin: Natürlich muss man sich seit einigen Jahrzehnten grundsätzlich bei jeder sportlichen Höchstleistung fragen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Aber Baumann? Baumann doch nicht! Andererseits: den Quatsch, dass die Stasi (der kenianische Geheimdienst, die Da-Vinci-Bruderschaft, die Söhne Harald Norpoths, you name it) seine Zahncreme manipuliert hätten, den kann er seiner schwäbischen Großmutter erzählen, während sie die Spätzle abseiht.
Wie dem auch sei, 92 in Barcelona war er vielleicht hoffentlich bestimmt sauber, als ihm der größte Gänsehaut-Moment von allen gelang, als er die hundert Meter in 11,9 Sekunden lief. Okay, mögen jetzt manche sagen, 11,9 Sekunden über hundert Meter ist durchaus keine Weltklasseleistung, und diesen Skeptikern gebe ich hundertprozentig recht. Vor seinem Hundert-Meter-Sprint war Baumann allerdings schon 4900 Meter gelaufen, und das sollte ein etwas anderes Licht auf die Sache werfen. Während der letzten Runde hab ich jedenfalls keinen Pfifferling mehr auf Baumann gegeben, gegen die afrikanischen Jungs hatte Dieter doch keine Chance, und dann hat dieser Trottel sich auch noch abdrängen lassen, auf Platz fünf oder wo, jetzt ist nur noch Bronze drin, ach Quatsch, Bronze ist auch weg, Baumann, dummer Versager, kann nur die Alleebäume auf der schwäbischen Alb überholen, hat nix drauf, der Mann. Und dann ging die Lücke auf…

Für Momente wie diesen ist das Wort „unwiderstehlich“ geprägt worden. Ich krieg heute noch Gänsehaut, wenn ich zugucke. Und feuchte Augen.

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Olympische Gänsehaut-Momente III: Mit dem Pornobalken auf Lattenhöhe

Ein bisschen sehr tragisch ist es schon, dass man zuerst an seine monumentalen Fehlleistungen denkt, wenn man sich an Jürgen Hingsen erinnert.
Die drei Fehlstarts über hundert Meter in Seoul, die ihn sofort aus dem Wettbewerb katapultierten… So, als wollte er sich absichtlich und möglichst unelegant aus dem Zehnkampf verabschieden, bevor der eigentlich begonnen hatte. Da hingen wir mit offenen Mündern vor der Glotze und fragten uns: „Kann man wirklich so doof sein wie Jürgen Hingsen?“
Und natürlich das Stabhoch-Drama in Los Angeles. Um Himmelswillen. Der bizarrste Stabhochsprung aller Zeiten. Da hingen wir mit offenen Mündern vor der Glotze und fragten uns: „Kann man wirklich so doof sein wie Jürgen Hingsen?“
Er machte es einem aber auch leicht, ihn doof zu finden. Sein nassforsches Auftreten („Ich bin der größte Athlet aller Zeiten.“) und der dämliche Pornobalken unter der Nase… Jürgen Hingsen wirkte nicht wie ein Ernst zu nehmendes Sportidol, sondern eher wie ein geltungsbedürftiger Krefelder Gebrauchtwagenhändler, der mal ordentlich auf den Putz hauen will.
Aber als ich für diesen kleinen Text ein wenig recherchierte, begann ich, Hingsen mit anderen Augen zu sehen. Um Himmelswillen, der Weltrekord, den er 1984 aufgestellt hat, ist ja noch immer Deutscher Rekord! Seit 24 Jahren war kein deutscher Zehnkämpfer besser als Hingsen. War wohl doch kein ganz schlechter.
Und wenn man sich an den Zehnkampf in Los Angeles vor dem Stabhochspringen erinnert, dann war das eine der spannendsten Sportveranstaltungen, denen ich je zugesehen habe. Daley Thompson (mit ähnlichem Oberlippenzierat wie Hingsen ausgestattet, war damals wohl Mode unter Mehrkämpfern) hat ständig vorgelegt, doch Hingsen hat stoisch gekontert und ist immer näher an ihn heran gerückt. Beim Diskus hatte er ihn beinahe, doch dann hat Thompson im letzten Versuch eine neue persönliche Bestweite aus dem Zylinder gezaubert. Knapp daneben ist auch verfehlt, dachten wir, aber es ist ja noch alles drin, es stehen ja noch drei Disziplinen aus. Was kommt als nächstes? Ach, Stabhochsprung…

Für viele bewegungsbegabte Sportler ist eine Karriere als Schauspieler in körperbetonten Action-Filmen eine logische Konsequenz, und als Hingsen nach den Spielen von Los Angeles eine Hauptrolle in einem neuen Meisterwerk aus der Siggi-Rothemund-Schmiede namens „Drei und eine halbe Portion“ angeboten wurde, griff er beherzt zu. Auch in diesem für ihn ungewohnten Metier verleugnete er sich nicht und drückte dem Wettkampf Film seinen eigenen Stempel auf.

Daley Thompson pflegte seinen Dauerrivalen übrigens gern als „Hollywood Hingsen“ zu bezeichnen. Jetzt wissen wir, warum.

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Olympische Gänsehaut-Momente I: Der Kran

Seit Freitag laufen diese dubiosen Spiele, die ich ja nicht gucken mag, aber die ganzen zweieinhalb Wochen ohne Spocht? Geht gar nicht. Deshalb hab ich youtube nach ein paar ollen Olympia-Kamellen abzusuchen, die ich hier in den nächsten Tagen vorzeigen werde. Paar Gänsehaut-Klassiker, aber auch ein paar Sachen, die ich mir selbst erst wieder ins Gedächtnis rufen musste. Den heutigen Moment allerdings nicht, wenn man das einmal gesehen hat, kann man‘s nie mehr vergessen.
Stichwort Ringen. Für mich eine etwas gewöhnungsbedürftige Sportart. Männer verschiedener Gewichtsklassen grapschen aneinander herum, bis einer den anderen umgeworfen hat. Big Deal. Nichtsdestoweniger hat die Sportschau in den Sechziger Jahren gern und ausführlich Ringen gesendet, und so war auch ein Ringer-Muffel wie ich vertraut mit Wilfried Dietrich, der in jeder, aber auch wirklich jeder Sportschau als der „Kran von Schifferstadt“ bezeichnet wurde. Vermutlich hatte die ARD seinerzeit diesen Spitznamen-Witz für teuer Geld eingekauft, und deshalb musste er so oft wie möglich verwendet werden. „Und jetzt kommt Wilfried Dietrich, der Kran von Schifferstadt…“ „Wilfried Dietrich, den man ja nicht nur in Schifferstadt den Kran von Schifferstadt nennt…“ „Vielleicht wissen ja einige von Ihnen noch nicht, dass Wilfried Dietrich auch der Kran von Schifferstadt genannt wird…“ Auch wenn es einem physiologischen Wunder gleich kommt, so ein Kran kann einem tatsächlich ganz weit aus den Ohren heraushängen.
Wie dem auch sei, 1972 trat Wilfried Dietrich, der… nein, ich schreib es nicht… also, unser Wilfried Dietrich trat noch mal bei den Spielen in München an, ohne dass ihm irgendjemand allzu viel zutraute. Der… Ringer Wilfried Dietrich hatte seine beste Zeit schon hinter sich, mehr als ein achtbares Abschneiden war wohl nicht drin, und tatsächlich reichte es letztlich nicht zu einer Medaille. Aber wer interessierte sich denn 1972 noch für Wilfried Dietrich? Tagesgespräch war der amerikanische Ringer Chris Taylor, mit fast 200kg der schwerste Olympiateilnehmer aller Zeiten, der im Freistil eine Bronzemedaille errungen (ha!) hatte. Alle Welt rätselte, ob dieser Koloss überhaupt ringen konnte, oder ob er einfach dadurch gewann, dass er sich auf seine Gegner drauflegte und sie unter seinen vier Zentnern begrub. Und als dann unser Kr… Wilfried Dietrich mit seinen damals 39 Jahren in Griechisch-Römisch gegen dieses Riesenbaby antreten musste, war die Frage nicht: „Kann er das gewinnen?“, sondern die Frage war „Kann er das überleben?“ Und dann entkorkte (bitte auf den Kommentator achten, natürlich sagt er es) Wilfried Dietrich diese unglaubliche Nummer:

 

Tja, was soll man dazu sagen? Der Zorn des Kran?

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