Gröspaz

Seit ca. 40 Jahre guck ich mit heißem Herzen Fußball. Wenn irgendwo der Schiri pfeift und die Jungs anfangen, nach der Kugel und ihren Schienbeinen zu treten, bin ich dabei. Wenn ich konservativ schätze, hab ich in der ganzen Zeit mindestens ein Spiel die Woche geguckt. Dann wär ich also bei ca. 2048 Spielen, die ich mir im Stadion, im Fernsehen oder sonstwo angeguckt habe. Da aber diverse WMs und EMs und die Stadionbesuche bei den Bayern oder Blau-Weiß 90 die Statistik gewaltig in die Höhe getrieben haben dürften, muss ich fürchten, dass ich mir deutlich mehr als die doppelte Menge Spiele in voller Länge angeguckt habe, im Stadion oder im TV. Und welches war nun das beste, großartigste, spannendste, aufregendste… schlicht das Gröspaz, das Größte Spiel aller Zeiten? Das „Spiel des Jahrhunderts“, das Halbfinale 70 gegen Italien? Unglaublicher Kampf mit tragischem, ungerechten Ausgang! Finale EM 72 gegen Russland – die letzte Viertelstunde ist nach wie vor das grandioseste, was ich je von einer deutschen Nationalmannschaft gesehen habe, wie sie sich einfach nur die Kugel zugeschoben haben, während die Russen konsterniert zugeguckt haben… eisigste Perfektion für die Ewigkeit! Finale WM 74 – vermutlich Beckenbauers größte kämpferische Leistung, wie er die Bälle auf die Tribüne gedroschen hat, unglaubliche Reaktionen von Maier, das Siegtor von Müller nach wie vor einmalig: selbst in der Superzeitlupe sieht man nicht, wie er sich dreht. Er nimmt den Ball mit dem Rücken zum Tor an, und eine Tausendstelsekunde später schießt er in die andere Richtung. – Die Europapokalschlachten der Bayern in den 70er Jahren… Der HSV, der gegen Juve den Europacup holt… Wieder Bayern, wie sie unbegreiflich gegen Porto versemmeln… Andi Brehme, der in der römischen Nacht anläuft (Immer, wenn ich Gianna Nannini höre, seh ich seit dem den ollen Brehme anlaufen!)… die wunderbare EM 96, trotz Vogts… das 86er Finale, mein Gott, wenn der Toni Normalform gehabt hätte… das 02er Finale, mein Gott, wenn der Olli Normalform gehabt hätte… die 119. 2006 in Dortmund, der Dolchstoß, der vergiftete Pfeil der immer noch in meinem Herzen steckt… Hinter einer Partie müssen sie alle verblassen. Die grandiosesten 90 Minuten – eigentlich 45 Minuten, wenn man pingelig ist – meines langen Lebens als Fußballzuschauer verdanke ich ausgerechnet dem KFC Uerdingen.
Der damals, als dieses Land noch im Geld schwamm und die Pharmakologen aus Legokusen sich zwei Bundesligavereine leisten konnten, als „Bayer Uerdingen“ firmierte. Damals, das war der 19.3.86, und die Uerdinger empfingen Dynamo Dresden zum Rückspiel im Europacup der Pokalsieger. Das Hinspiel hatten sie in Dresden 0:2 vergeigt, und erwartungsfroh versammelten meine Fußballkumpels Patrick, Andi und ich uns vor dem Fernseher. Ein Nullzwo aufzuholen war jederzeit machbar, und deshalb versprachen wir uns ein aufregendes, offensiv geführtes Spiel, zumal Uerdingen seinerzeit von dem gern offensiv agierenden Kalli Feldkamp trainiert wurde und mit dem – meiner Ansicht nach vollkommen zu unrecht in Vergessenheit geratenen – Matthias Herget einen begnadet offensivstarken Libero aufbieten konnte. Also, vor dem Fernseher gemütlich gemacht, Pilsbier geknackt, und die Party konnte losgehen.
Zur Halbzeit diskutierten wir, in welcher Kneipe wir den Abend fortsetzen sollten. Das Spiel war durch, die Dresdner führten 3:1, Uerdingen war ausgeschieden, da konnte man sich doch am Tresen ein frisch Gezapftes gönnen, und von vergangenen Europacup-Schlachten schwadronieren. Gottseidank griff jedoch eine übergeordnete Macht (Assauers ungerechter Fußballgott?) ein und ließ uns „Nur noch 5 Minuten, vielleicht passiert ja doch noch was …“ vor dem Fernseher ausharren.
Ca. 45 Minuten später war mein Couchtisch Kleinholz (Ich hatte beidfäustig auf ihn eingehämmert, während ich ca. 10mal hintereinander „Das gibt’s doch nicht!“ gebrüllt hatte.), Patrick, Andi und ich lagen uns in den Armen und versicherten uns ein ums andere mal, dass wir „so etwas ja überhaupt noch nicht“ gesehen hätten. Die Uerdinger hatten in einem atemberaubend rauschhaften Sturmlauf in den zweiten 45 Minuten 6 Tore geschossen und die Dresdner mit 7:3 aus dem Europacup geworfen. Noch heute fehlen mir die Worte, um dieses unglaubliche Offensiv-Spektakel zu beschreiben, bei dem auf einmal alles, aber auch alles passte, was immer die Uerdinger auch anstellten. Und vor allen Dingen herrschte eine unglaubliche Stimmung. In der Grotenburg-Kampfbahn, in der Sprecher-Kabine des ausrastenden Kommentators und in meinem Wohnzimmer.
Ca. eine Viertelstunde nach Spielende klingelte es bei mir an der Tür. „Das ist Marjam!“ rief Patrick, „Das erledige ich!“ Marjam war seine damalige Freundin, die sich nicht für Fußball interessierte und deshalb die Spielzeit im Kino verbracht hatte. Patrick eilte zur Tür, riss dieselbe auf und rief: „Und das war jetzt das, was ich dir seit Jahren nahe zu bringen versuche: Erlebnis Fußball! Erlebnis Fußball, verstehst du? Aber du warst ja wieder mal nicht da!“ Sprach’s, knallte der vollkommen verdatterten Marjam die Tür vor der Nase zu und kam zurück zu uns ins Wohnzimmer. „Der lange Paß von Herget auf Funkel, unglaublich!“, meinte er. „Sowas hab ich ja überhaupt noch nicht gesehen.“
Ja. So ein Spiel war das.

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