Zum Saisonauftakt: Erinnerungen an den Bomber, der keiner war

Unsinnigerweise pflegte und pflegt die Boulevardpresse ihn immer als „Bomber“ zu bezeichnen. Dieser Begriff wird seiner Art, Fußball zu spielen und vor allen Dingen seiner unnachahmlichen Art, Tore zu erzielen, nicht im entferntesten gerecht. Die mit Urgewalt förmlich ins Tor hineingedroschenen Bomben waren seine Sache nun gar nicht. Er war ein Strafraumspieler von unglaublicher Beweglichkeit, der den Ball behaupten konnte, auch wenn er von mehreren Gegenspielern attackiert wurde. Diese engen, unübersichtlichen Situationen suchte er geradezu. Wenn es im Strafraum ein Getümmel gab, war er meist mittendrin, und irgendwann kullerte der Ball aus dem Getümmel heraus über die Tor-Linie. Typisches Müller-Tor!
Bei seinen Aktionen hatte er meist auch gar nicht die Zeit, dem Ball eine größere Wucht mitzugeben. Meist gelang es ihm, im Zweikampf ein paar entscheidende Millimeter zu gewinnen, so dass er gerade noch mit einer Schuh- oder Haarspitze an den Ball kam und ihn so irgendwie über die Torlinie schummelte. Typisches Müller-Tor!
Seine eigentliche Stärke aber war, dass er sich nicht umdrehen musste. Das wird bei seinem berühmtesten, vielleicht seinem wichtigsten Tor deutlich, dem 2:1 im 74er Finale gegen Holland. Er nimmt den Ball mit dem Rücken zum Tor an und schießt ihn eine hunderttausendstel Sekunde später frontal in die Kiste. Auch in der Superzeitlupe sieht man nicht, wie er sich umdreht. Er steht mit dem Rücken zum Tor und plötzlich steht er anders rum da, ohne sich umgedreht zu haben. Man sieht es an der verzögerten (Nicht-) Reaktion des Torhüters Jongbloed, der gar nicht damit gerechnet hat, dass jemand aus dieser Situation heraus einen Torschuss realisieren könnte. Der muss sich doch erst umdrehen… Müller musste dass nicht, er konnte sich umdrehen, ohne sich umzudrehen. Typisches Müller-Tor!
Was man im Stadion deutlicher ausmachen konnte als vor dem Fernseher: Müller hatte einen unglaublichen Spaß am Fußballspielen. Er liebte den Doppelpass und konnte sich über einen gelungenen Spielzug genauso freuen wie über ein Tor. Und er war – was man heutzutage bei Profikickern immer seltener findet – von einem brennenden Ehrgeiz besessen. Er fightete von der ersten bis zur letzten Minute, und wenn die Bayern mal zurücklagen oder gar verloren, dann ärgerte er sich schwarz. Unsinnigerweise hat man ihm zu seiner aktiven Zeit des öfteren Defizite im fußballtechnischen Bereich vorgeworfen. Das war natürlich Quatsch. Unorthodox konnte man sein Spiel, seine Bewegungsabläufe vielleicht nennen. Wäre er technisch limitiert gewesen, hätte er den Catenaccio-Königen im Jahrhundertspiel nicht zwei Tore einschenken können. Dann wäre er nicht der „Bomber“ Müller gewesen. Der er ja auch gar nicht war.

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[tags]Fußball, Nostalgie, FC Bayern, Müller, Jahrhundertstürmer[/tags]

3 Gedanken zu „Zum Saisonauftakt: Erinnerungen an den Bomber, der keiner war

  1. „Kleines dickes Müller“, so wurde er in meiner Erinnerung doch auch genannt. Doch wie er jubeln konnte, was er hoch springen konnte, und wie er die Arme hochreißt, der Vollstrecker. Das war einfach richtig großer Fußball, der damals gespielt wurde.

  2. „Kleines dickes Müller“ hat ihn „Tschik“ Cajkovski genannt. Vom „Tschik“ gibt es eine Anekdote, die – fürchte ich – zu schön ist, um wahr zu sein. Ich erzähl sie aber trotzdem. Nachdem er bei Bayern rausgeflogen war, heuerte Tschik beim FC Köln an. Die ersten Spiele gingen verloren, die Mannschaft spielte konfus und das Präsidium fragte an, woran der Mißerfolg läge. Die Spieler, hieß es, würden den Trainer und sein kurioses Deutsch nicht verstehen. Macht nix, sagten die Herren vom Präsidium, engagieren wir einen kroatischen Dolmetscher, Herr Cajkovski kann dann alles kroatisch erklären, und der Dolmetscher übersetzt es den Spielern. Ein Dolmetscher war schnell gefunden, und der kreuzte eine halbe Stunde nach Arbeitsantritt beim Präsidenten auf. „Herr Präsident, wir haben ein Problem!“ – „Was für ein Problem denn?“ – „Herr Cajkovski spricht kroatisch genauso, wie er deutsch spricht.“

  3. Pingback: Splitterbrötchen (DCCCXL) | Chris Kurbjuhns Netzecke

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