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Ich nehme an, dass er mich nicht gemocht hat. Genau weiß ich es nicht, dazu haben wir nicht genug miteinander geredet. Aber der gequälte Gesichtsausdruck, den er mir zeigte, wenn ich seine Buchhandlung betrat, sprach Bände: Er wusste, dass es jetzt schwierig werden würde. Da kam wieder der Idiot, der Bücher bestellen würde, die er nicht mochte. King. Pratchett. Irgendwelchen Spannungs-Mumpitz, der unter seiner Buchhändler-Würde war.
Die Rede ist von Herrn A., dem Inhaber einer kleinen Buchhandlung in Kreuzberg, in der ich ca. zehn Jahre lang meine Lektüre einkaufte. Herr A. war bzw. ist hoffentlich noch ein Exzentriker, der die meisten seiner Kunden deutlich spüren ließ, dass sie ihm als literarische Sparringspartner nicht gewachsen waren. Besonders Neukunden empfing er gern mit ausgesuchter Feindseligkeit. Ich hab einmal mitbekommen, wie eine gutgekleidete Dame mittleren Alters (so sagte man damals) ahnungslos seinen Laden betrat und fragte, ob er den neuen Simmel1 da habe. „Nö“, maulte er missmutig zurück. Die Dame wähnte sich nach wie vor in einer normalen Buchhandlung und fragte, ob er ihr das gewünschte Buch bestellen könnte. „Nein!“ bellte er als Antwort. Und auf ihre schüchterne Frage, warum er diese zur Kernkompetenz eines Buchhändlers gehörende Aufgabe nicht erfüllen wollte, verwies er sie mit einem garstigen „Ist mir einfach zu blöd!“ an ihren Platz, der sich außerhalb der Buchhandlung befand. Das war übrigens eins der wenigen Male, an dem Herr A. mich zum Lachen brachte.
Warum bin ich trotzdem immer wieder zu Herrn A. gegangen? „Weil’s um die Ecke war“, ist natürlich ein gewichtiges Kriterium. Das andere war das Verzeichnis lieferbarer Bücher, das bei Herrn A. mitten im Laden auf einem Tisch lag, zur gefälligen Benutzung durch die unerwünschte Kundschaft. In Zeiten vor dem Internet kam man als normaler Buchkäufer an das Verzeichnis lieferbarer Bücher, ein halbjährlich aktualisiertes, riesiges Buch in zwei Bänden, nicht ran, denn die Buchhändler hüteten es wie den heiligen Gral: Nur sie dürften daran nachschlagen, um dem Kunden dann mitzuteilen, dass das von ihm gewünschte, hochinteressante Buch aus einem kleineren Verlag vergriffen oder gerade nicht lieferbar war. Meist war es das gar nicht. Der Buchhändler oder die Buchhändlerin hatten bloß keine Lust, eine Bestellung außerhalb der bequem ausgetretenen Grossistenpfade zu tätigen. Wie Monopolisten eben so sind.
Herr A. war anders. Der kontaktierte gern obskure Kleinverlage2 und wickelte die übrigens eigentlich vollkommen unkomplizierten Bestellungen mit gelangweilter Nonchalance ab. Nicht zuletzt, weil ihm die widerspruchslose Bestellerei zahllose überflüssige Debatten mit der geistig nicht satisfaktionsfähigen Kundschaft ersparte. Deshalb stand bei ihm das VLB auch mittig im Laden: Sollten die ungeliebten Kunden ihren Schund doch selber nachschlagen! Auf diese Weise konnte er kommod an seinem Tischchen sitzen, sich heftig rauchend in vollkommen ungenießbare Bücher vertiefen oder mit seiner Schwerintellektuellen-Kamarrilla auszutauschen, die sich regelmäßig bei ihm traf. Doch, Herr A. hatte einige Freunde, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, geistige Flaneure, die die Niederungen des Kommerzes mieden und daher bei ihm meist keine Bücher kauften, sondern nur Kaffee und Zigaretten schnorrten.
Ich habe viele Stunden im Laden von Herrn A. verbracht und im Verzeichnis lieferbarer Bücher rumgesucht, immer bemüht, ihn möglichst wenig zu stören. Dabei bin ich auf zahlreiche Autoren und Bücher gestoßen, auf die ich ohne diese Recherchemöglichkeit niemals gekommen wäre. Dafür bin ich ihm durchaus dankbar, aber, ganz ehrlich, sein misstrauisch-zweifelndes Starren war nicht immer leicht auszuhalten. Deshalb begrüßte ich dieses neuartige Internetz durchaus frenetisch, weil plötzlich das VLB dort zu finden war. Kaum hatte ich eine AOL-CD in meinen Rechner geschoben, war ich auch schon Kunde beim „ABC Bücherdienst„, der mir sogar englische Bücher in nullkommanix herbeischaffen konnte.
Ein paar Jahre später hat Herr A. dann seine Buchhandlung geschlossen. Eigentlich wären wir ja ein gutes Team gewesen: Ein Buchhändler, der keine Kunden mochte, und ein Kunde, der keine Beratung wollte. Aber es hat nicht funktioniert, mit oder ohne Internet. Es ist grotesk, aber es ist wahr: Manchmal vermisse ich ihn. Aber wirklich nur für ein paar Sekunden.