Kopfwäsche von Herrn Flach

Foto von Karl-Hermann Flach

Archiv des Liberalismus, Bestand Audiovisuelles Sammlungsgut, F5-1 / CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Anfang der 70er Jahre waren wir alle politisch. Als 1969 Willy Brandts sozialliberale Koalition begann, den Muff von 20 Jahren CDU-Vorherrschaft wegzupusten, als mit den Ostverträgen „Wandel durch Annäherung“ versucht wurde, kurz, als die Dinge sich tatsächlich zu verändern begannen, ließ das niemanden kalt. Wir begannen, nachzudenken, bezogen Stellung, diskutierten … die Dinge erschienen auf einmal veränderbar, und man wollte mitmachen, mit verändern, sich einbringen. Es war eine schöne, sehr aufregende Zeit, in der ich zu überlegen begann, ob nach Abitur und Studium die Politik nicht etwas für mich wäre..

Ich schloss mich Anfang der 70er Jahre den Jungdemokraten an. Die Ideen des Liberalismus beseelten den idealistischen jungen Kerl, der ich damals war, und die Judos hatten damals ein großes Thema, das mich umgetrieben hat: die Trennung von Kirche und Staat. Ich  empfand die Privilegien, die die evangelischen und katholischen Kirchen hierzulande genossen und weidlich ausnutzten als schlichtweg inakzeptabel, ebenso wie die Rollen, die sie im öffentlichen Diskurs spielten.

1973 fand der Landesparteitag der hessischen FDP in Eschwege statt, unser Ortsverband organisierte die Veranstaltung, und meine Aufgabe war es, die Abstimmungen auf dem Parteitag zu organisieren. Ich musste Wahlhelfer beschaffen und einweisen, die die Stimmzettel einsammelten, musste darauf achten, dass alles ordnungsgemäß ablief, die Ergebnisse übermitteln etc. Das klappte ganz gut, die ganze Sache war auch nicht sonderlich schwer zu managen. Als Gegenleistung für mein Engagement dürfte ich mir eine Begegnung mit einem FDP-Politiker wünschen, der am Parteitag teilnahm. Ich hab keine tausendstel Sekunde überlegt und bat um ein Gespräch mit Karl-Herrmann Flach. Flach war damals der Superstar des Linksliberalismus, er war der spiritus rector hinter den „Freiburger Thesen“, und sein Buch „Noch eine Chance für die Liberalen“ hatte ich mehrmals gelesen.

Kurz nach dem Schlusswort des Parteitags war es dann so weit, ich wartete im „Zählzimmer“ hinter der Bühne der Eschweger Stadthalle, und dann flog die Tür auf und Karl-Hermann Flach kam herein. „Ich habe höchstens eine Viertelstunde, was wollen Sie wissen?“

Natürlich hatte ich mir gut überlegt, was ich Flach fragen wollte, und so sprach ich das damals aktuelle „Kirchenpapier“ der Jungdemokarten an, in dem wir die Trennung von Kirche und Staat forderten, und fragte ihn, wie man diese Trennung in die Wirklichkeit umsetzen könne. Mit allen möglichen Antworten hatte ich gerechnet, aber nicht mit der, die Herr Flach mir gab: „Gar nicht. Das ist kompletter Unfug, den Sie vergessen sollten. Wenden Sie sich anderen Dingen zu!“

Wenn er beabsichtigt hatte, mir jegliche Scheu vor sich zu nehmen und mich auf hundertachtzig zu bringen, war ihm das gelungen. Natürlich widersprach ich dem „Unfug“ und verteidigte unser politisches Anliegen. Aus der Viertelstunde, die Flach mir zugestanden hatte, wurde ein anderthalbstündiger Streit, der immer wieder von Flachs zum Aufbruch mahnendem Fahrer unterbrochen wurde. Flach argumentierte nicht in der Sache gegen mich: Die Trennung von Kirche und Staat wäre ein lobenswertes Ziel, das aber nicht verwirklicht werden könnte. Schon gar nicht von einer kleinen Partei wie den Liberalen, die ein derart fundamentales Vorhaben nur mit Verbündeten umsetzen könnte, und die würden sich nicht in der SPD und schon gar nicht bei der CDU finden lassen. Niemand würde es sich mit der eigenen, christlich orientierten Klientel verscherzen wollen. Und noch viel wichtiger: Wenn man auch nur versuchen würde, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, würde man eine riesige Angriffsfläche bieten, und die Angreifer konnten sich der Unterstützung der mächtigen Kirchen sicher sein. Ein Vorhaben wie die Trennung von Kirche und Staat sei schlicht nicht realisierbar.

Dieser Argumentation hatte ich – außer meinem plötzlich ein wenig deplatziert wirkenden Idealismus – wenig entgegenzusetzen. Und auf meinen Einwand „Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer war doch vor ein paar Jahren auch noch eine reine Utopie, was ist da der Unterschied zur Trennung von Kirche und Staat?“ hatte Flach auch eine Antwort: „Die Mitbestimmung einzuführen, hat sich als eine Frage der Vernunft erwiesen. Das kann man öffentlich mit Gewinn diskutieren. Bei der Kirche ist immer etwas Irrationales mit im Spiel, auf das Terrain will man sich nicht begeben.“

Als Herr Flach sich nach anderthalb Stunden verabschiedete, war ich einigermaßen verdattert. Ich hatte mir von ihm etwas gänzlich anderes erwartet als eine Lehrstunde in politischem Pragmatismus. Aber ich musste mir auch eingestehen, dass ich seiner Argumentation nichts entgegenzusetzen gehabt hatte: Der Mann hatte in der Sache schlicht recht gehabt und meinem Idealismus die Grenzen aufgezeigt. Ich beschloss, mir für ein weiteres Treffen – das Flach mir beim Abschied versprochen hatte – etwas einfallen zu lassen und mich besser vorzubereiten.

Dazu kam es dann nicht mehr. Nur wenige Wochen später saß ich geschockt vor dem Fernseher, als in der Tagesschau sein plötzlicher Tod vermeldet wurde: Schlaganfall. Das war ein immenser Verlust, und ich frage mich heute noch, wie anders sich dieses Land und die FDP entwickelt hätten, wenn Flach nicht so früh gestorben wäre.

Das anderthalbstündige Gespräch mit diesem außergewöhnlichen Mann hat mein Leben und Denken nachhaltig geprägt. Je mehr Jahre vergingen, desto klarer wurde mir, wie Recht Flach gehabt hatte. Von der Trennung von Kirche und Staat sind wir heute noch beinahe genauso weit entfernt, wie damals, auch wenn der Einfluss der Kirchen mittlerweile deutlich geringer ist als damals. Wie wichtig Pragmatismus ist, hat Flach nachhaltig in meinem Denken verankert. Heute weiß ich, dass die dollsten idealistischen Ideen nur Stammtischparolen bleiben, wenn man keinen Weg weiß, wie man aus ihnen Wirklichkeit machen kann. Und weil mir noch als Jugendlicher klar wurde, dass meine Ideen sich meist einen Scheiß darum scherten, ob sie in die Wirklichkeit passen oder nicht, hab ich das mit der Politik sein lassen und bin zum Theater gegangen. War damals eine gute Entscheidung, die ich auch der Kopfwäsche von Karl-Hermann Flach zu verdanken habe.

Neuss zum Hundertsten

Heute wäre Wolfgang Neuss 100 Jahre alt geworden. Es ist schlichtweg erbärmlich, dass die Mehrheit der Deutschen mittlerweile denkt, dass einer der größten Kabarettisten unserer Zeit, der von 1950 bis 1970 Ost und West den Spiegel vorgehalten hat wie kein anderer, ein in mehrfacher Hinsicht zahnloser, leicht verwirrter Hippie war, dessen Lebensleistung darin bestand, einen Bundespräsidenten „Ritchie“ genannt zu haben. Leute, der Hippie war nur ein müder, harmloser Abklatsch vom richtigen Neuss. Hier sind ein paar Minuten vom Original:

 

 

Die Traum-Vorlage

Es ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, welche Strahlkraft der Fußballspieler Pelé zu seiner aktiven Zeit hatte. Die meisten, die in den 60er Jahren von ihm schwärmten, hatten ihn ja nie spielen sehen. Bewegte Bilder vom Fußball waren in dieser Zeit die seltene Ausnahme, nicht die Regel. Wann gab es denn Fußball zu sehen, damals? Ab 1963, dem Gründungsjahr der Bundesliga, gab es die Samstags-Sportschau, in der man hastig zusammengeschnittene Spielausschnitte der nationalen Vereine sehen konnte, internationalen Fußball gab es gelegentlich(!) im aktuellen Sportstudio und in der Sonntags-Sportschau, in der es eine Rubrik „Sport aus aller Welt“ gab. In der gab es einen kurzen, vielleicht eine Minute langen Ausschnitt aus einer internationalen Partie, der alle paar Wochen aus Brasilien kam. Da konnte man dann eins von Pelés Sensations-Toren oder seinen Wunder-Dribblings sehen. Wofür man also mehrere Stunden Wettkampf-Turnen, Rhönrad-Fahren oder Ringen in verschiedenen Gewichtsklassen durchgestanden hatte. Das war uns kleinen, fußballbegeisterten Jungen egal, Hauptsache, man konnte ein paar Sekunden lang Pelé spielen sehen.
Ganze Partien, in denen Pelé sein Spiel entfalten konnte, bekamen wir erst bei der WM 1970 zu sehen. Zwar waren auch bei den Weltmeisterschaften 62 und 66 einige Brasilien-Spiele im TV zu sehen gewesen, doch bei beiden war er eine Randerscheinung geblieben, 62 hatte er sich im 2. Spiel verletzt, 66 wurde er rüde zusammengetreten, so dass Brasilien in der Vorrunde ausschied. Wir hatten Pelé also – außer in kurzen Ausschnitten – bis 1970 nicht wirklich spielen sehen. Trotzdem war uns allen klar, dass er der beste Spieler der Welt, vermutlich der beste Spieler aller Zeiten war. Weil wir von seiner Einmaligkeit gelesen hatten.

Bis in die 70er Jahren hinein war Fußball ein Sport, den man vor allem lesend erfuhr. Jede Tageszeitung hatte einen mehrseitigen Sportteil, den wir uns erbettelten, wenn der Vater die Zeitung aufschlug. Und da lasen wir dann aufgeregt von aufregenden Spielen hierzulande und anderswo, von außergewöhnlichen Spielern, Helden und Bösewichten, von gerechten und ungerechten Entscheidungen in letzter Sekunde. All das formte sich in unserer Fantasie zu Bildern, die jederzeit überwältigender waren als das schnöde-wirkliche Schwarzweiß-Geflacker, das damals aus den Fernseh-Kisten kam.

Fußball ist auch deshalb zu einem so immens populären Sport geworden, weil sich über ihn besser schreiben ließ, weil er sich besser beschreiben lässt als jede andere Sportart. Mit jedem Anpfiff liefert der Fußball das Rohmaterial für ein Drama, das dann die Fußballreporter in Worte gossen, die in den Köpfen der Leser zu unvergesslichen Bildern wurden, meist – wie gesagt – gewaltiger als das, was sich wirklich auf dem Platz ereignet hatte. Und Pelé hat damals verlässlich die Vorlagen für unsere Träume gegeben. Neymar hat auf Instagram die passenden Worte gefunden: „Vor Pelé war die 10 einfach nur eine Zahl. Vor Pelé war Fußball nur eine Sportart, er hat daraus Kunst und Unterhaltung gemacht.“ Pelé hat auf dem Rasen die Drehbücher getanzt, aus denen – auf dem Umweg über die Zeitungsseiten – in unseren Köpfen die größten, unfassbarsten Fußballträume geworden sind. Pelé war der größte Spieler aller Zeiten. Kein di Stefano vor ihm, kein Maradona nach ihm hat derart perfekte Vorlagen für unsere Träume gespielt. Auch, weil wir von ihm träumen durften, bevor wir ihn gesehen haben. Und natürlich auch, weil er 1970 – als wir ihn endlich sehen konnten – tatsächlich geliefert hat.

„Filthy Picture“ – „The Pirates“ 1979 im Kant-Kino

Springsteen hab ich nie gesehen. Zweimal hatte ich Karten, zweimal kam mir eine Spielplanänderung dazwischen, ich musste Theater spielen statt ins Konzert zu gehen. Ansonsten hab ich fast alle live gesehen, die mir musikalisch wichtig waren: Rory Gallagher. Die Who. Grateful Dead. Crosby, Stills & Nash. Chuck Berry. Ray Charles. James Brown. Bob Dylan. Frank Zappa. Paul McCartney. Um nur ein paar zu nennen. Springsteen fehlt mir in meiner Sammlung, und so wird das leider auch bleiben, die Ticket-Preise, die er für seine Tour nächstes Jahr aufruft, will ich nicht zahlen.

Also kann ich jetzt mal Bilanz ziehen: Was war das beste Konzert meines Lebens? Nun, nach sorgfältiger Abwägung waren das … (Trommelwirbel) … „The Pirates“, Anfang 1979 im Kant-Kino in Berlin.

Heutzutage kennt diese Band wohl kaum einer mehr. „The Pirates“ waren in den 60er Jahren als „Johnny Kidd and the Pirates“ unterwegs und hatten ein paar Hits, unter anderem den Klassiker „Shakin‘ all over“. Damit war Schluss, als Kidd 1966 bei einem Autounfall ums Leben kam. Zehn Jahre später formierten sich Johnnie Spence (b), Frank Farley (dr) und Mick Green (g) als „The Pirates“ neu und brachten zwei bemerkenswerte Alben heraus, extrem subtil „Skull Wars“ und „Out Of Their Skulls“ betitelt, die mich damals beeindruckt hatten: schnörkelloser, treibender Rock auf höchstem Energielevel. Genau einmal sind die Pirates in Berlin aufgetreten, am 21. Februar 1979 im Kant-Kino.

Etwa zwei Stunden dauerte dieses Konzert, zwei Stunden lang powerten diese drei Musiker die reine, ungehobelte Rock’n Roll-Energie von der Bühne runter. Sicherlich war Farley nicht der vielseitigste Drummer, und Johnnie Spence ein eher eindimensionaler Shouter, aber zusammen bildeten sie das kompakteste, straffste Rock-Rückgrat einer Band, das ich je erlebt habe, vor dem Mick Green, der wohl unterschätzteste Gitarrist der Rock-Geschichte, mit unglaublich schnörkellosen Schnörkeln die Telecaster kreischen ließ. Es dauerte keine drei Takte, dann saß im Kant-Kino keiner mehr, man konnte gar nicht anders, als mit dieser Band mitgehen.

Dieses Video gibt eine leise Ahnung von der Energie, die diese Band verströmte, im Kant-Kino konnte man die Klänge, die von der Bühne dröhnten, körperlich spüren und mit Händen greifen, es war eine absolut außerirdische Atmosphäre, wie ich sie vorher und nachher nie wieder erlebt habe.

Im letzten Drittel des Konzerts hatte sich eine junge Dame zum Bühnenrand vorgearbeitet, schwenkte ein Foto und rief immer wieder „Johnnie! Johnnie!“ Spence hörte zu spielen auf, kam an die Rampe und holte sich das Foto. Er betrachtete es und grinste dann breit und dreckig. Green und Farley hörten ebenfalls auf zu spielen, um sich das Foto anzuschauen. Sofort grinsten auch sie und nickten anerkennend. „Filthy Picture!“ rief Spence erklärend und begann, sein Bassriff weiterzuspielen. Rock’n Roll pur.

They don’t make musicians like that anymore. Soll Springsteen doch machen, was er will. We’ll always have The Pirates.

Vereinsaustritt 1972

Meine Mutter war katholisch, mein Vater evangelisch. Als sie 1939 heirateten, wurde meine Mutter exkommuniziert.

Einmal im Jahr erhielt meine Mutter Besuch von einem katholischen Priester, mit dem sie jeweils ein langes Gespräch führte. Irgendwann hab ich mal aus Neugierde gelauscht. Da hörte ich, wie der Priester meiner Mutter erklärte, dass sie vor dem Fegefeuer sowieso nicht mehr zu retten sei, weil sie einen evangelischen Mann geheiratet und zugelassen habe, dass ihre Kinder evangelisch getauft worden waren. Aber er würde versuchen, für die Kinder zu beten, damit sie vielleicht irgendwann auf den rechten Weg fänden. Das wäre aber nur möglich, wenn meine Mutter der katholischen Kirche etwas spendete, natürlich keine kleine Summe. Und nachdem er das Schicksal ihrer Kinder im Fegefeuer in wortwörtlich glühenden Farben ausgemalt hatte, erhielt er seine Spende. Wenn er endlich gegangen war, weinte meine Mutter meist ziemlich heftig.

Als ich dann älter wurde, lernte ich nach und nach die evangelischen Pfarrer meiner Heimatstadt kennen. Ich habe jeden von ihnen gefragt, wie er denn die Praktiken seines katholischen Berufskollegen beurteilt. Jeder dieser Pfarrer hatte ein gewisses Verständnis für dessen Vorgehensweise, „Mischehen“1 würden derartige Probleme eben mit sich bringen.

Ich bin dann zum frühestmöglichen Zeitpunkt, mit 16, aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Glaubensfragen haben bei meinem Austritt keinerlei Rolle gespielt, ich wollte einfach mit Menschen, die ein derart widerliches Verhalten gutheißen, nicht in einem Verein sein. Bisher habe ich keinen Grund gefunden, meine damalige Entscheidung in Zweifel zu ziehen. Man muss ja nur die Zeitung aufschlagen bzw. das Internet bemühen, um zu sehen, dass Heuchelei und Gier nach wie vor die Kernkompetenz der großen Kirchen in Deutschland sind.

Alles richtig gemacht, damals, 1972. Wenn’s ein Fegefeuer gibt, dann hocken die Schwarzröcke drin.

Gegen die Angst

„Liebe Jungs, herzlich willkommen auf der Friedrich-Wilhelm-Schule! Damit wir uns gleich richtig verstehen: in drei Jahren ist die Hälfte von euch weg, und Abitur machen höchstens 10 Prozent.“ Mit diesen Worten wurde ich – zehn Jahre war ich damals jung – von meinem ersten Klassenlehrer auf dem Gymnasium meiner Heimatstadt begrüßt. Damit war dann auch die Marschroute für die nächsten neun Jahre vorgegeben: Uns wurde Angst eingejagt, ordentlich Druck gemacht. Damit wir gehorchten und ackerten. Und die Nummer funktionierte sehr gut. Wir bekamen solchen Schiss, dass wir gehorchten und ackerten wie die Weltmeister. Eine Weile lang. Irgendwann hält man den durch dauerndes Angst Machen ausgelösten Druck nicht mehr aus und sucht sich ein Ventil. Wir fingen damals an zu bescheißen. Spickzettel, Vorsagen, Abschreiben, das war nur der Anfang. Und das machten auch die Besten von uns, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hatten. Man beschiss nicht nur, um bessere Noten zu bekommen. Das Gefühl, den damals allmächtigen Lehrer übers Ohr hauen zu können, war wunderbar. Man spürte eine große Erleichterung, wenn man es einmal getan hatte. Und tat es dann immer wieder. Weil es Spaß machte. Ungefähr achtzig Prozent meiner Abiturnoten – ja, ich gehörte zu den zehn Prozent – sind durch zum Teil ausgefeilte Betrugsmethoden zustande gekommen. Ich hab sogar im Sport-Abi beschissen. Weil ich es konnte.

Die Parallelen zur aktuellen pandemischen Lage sind unübersehbar, nicht wahr?

Damals und heute

Mitte der 70er Jahre wurde die Bundesrepublik Deutschland von einer linken Terrorgruppe bedroht, der „RAF“ (vormals Baader-Meinhof-Gruppe). Die Reaktion des Staates auf diese Bedrohung war eindeutig. Fahndungsplakate mit den Fotos der Terroristen waren in den Städten plakatiert. An jedem Bahnhof hingen diese Plakate, in Post- und Bankfilialen, an Litfaßsäulen, es gab – meiner Erinnerung nach – keinen öffentlichen Ort, an dem diese Plakate nicht hingen. Die Polizei zeigte große Präsenz. Anlasslose Personenkontrollen waren an der Tagesordnung, ich (damals Anfang 20, langhaarig) wurde mindestens einmal pro Woche von einer Polizeistreife angehalten und musste meinen Ausweis vorzeigen, der umgehend auf Echtheit überprüft wurde. Meistens guckte ich bei diesen Kontrollen in die Mündung einer auf mich gerichteten Waffe. Die Polizisten waren nervös, schließlich konnte jeder ein Terrorist sein. Nachdem Polizisten einen letztlich unschuldigen Terrorverdächtigen durch seine geschlossene Wohnungstür erschossen hatten, hatte ich mir angewöhnt, meinen Ausweis in der Hand zu halten, wenn ich spätabends nach Hause ging. Lieber nicht in die Tasche fassen müssen, sonst denken die Bullen womöglich, ich würde eine Waffe ziehen…

Ich war in dieser Zeit auch viel auf der Autobahn unterwegs. Ich war mit einer Theatergruppe auf Tour, die in Jugendzentren und auf Festival alternatives Kinder- und Jugendtheater machte. Pro Monat spulten wir schonmal ein paar tausend Kilometer ab, alle paar hundert Kilometer setzte sich eine Polizeistreife vor uns, winkte uns heraus, kontrollierte uns, unseren Tourbus und unsere Ladung. Auch an unseren Auftrittsorten suchte die Polizei regelmäßig nach Terrorverdächtigen.

Auch das öffentliche Leben wurde damals von den Bemühungen des Staates dominiert, dem Terror Einhalt zu gebieten. Auf Linke und Liberale wurde öffentlich massiv Druck ausgeübt, sich von linken Terroristen und ihrem Umfeld zu distanzieren. Theater setzten daraufhin geplante Produktionen ab, z. B. von Camus‘ „Die Gerechten“ oder von Schillers „Die Räuber“, weil sie – m. E. zu Unrecht – Nachteile befürchteten. Ein 1977 entstandener Episodenfilm, „Deutschland im Herbst“ beschreibt das durchaus beängstigende Klima sehr gut.

Zur Zeit haben wir ein hierzulande ein massives Problem mit Terror von rechts. Es gibt rassistisch und antisemitisch motivierte Anschläge mit zahlreichen Opfern, politische Morde, rechte Terrornetzwerke wurden aufgehoben… Die Demokratie wird durch rechten Terror bedroht, aktuell werden über 500 politische Straftäter aus der rechten Szene polizeilich gesucht.

Ich habe vor vierzig Jahren miterlebt, mit welcher Härte sich dieser Staat gegen Terroristen wehren konnte. Ich verstehe nicht, warum er es heute nicht tut.

Das letzte Foto von Notre Dame

Vor ein paar Tagen, am 8. März waren wir in Paris und gingen bei bestem Wetter die Seine entlang spazieren. Als ich Notre Dame so vor mir liegen sah, griff ich zum Smartphone, um ein Foto zu machen. „Lass doch den Quatsch!“, dachte ich dann, „Notre Dame hast du schon so oft fotografiert.“ Ich hab das Foto dann doch gemacht und bin diesmal sehr froh, dass ich nicht auf mich gehört habe.

Die winkende Frau

Dieses Jahr wird es 30 Jahre her sein, dass die Grenze zwischen der BRD und der DDR gefallen ist. Das ist eine ziemlich lange Zeit, und immer öfter höre ich jetzt Menschen erzählen, dass es in der DDR gar nicht so übel war. Okay, das mit der Mauer und dem Schießbefehl und der fehlenden Reisefreiheit und der Stasi war irgendwie doof. Aber immerhin war die DDR antifaschistisch. Und menschliche Wärme wurde da ganz großgeschrieben. Da war nicht alles schlecht in der DDR. Diesen Menschen möchte ich gern von Frau H. erzählen.

1961 lebte Frau H. schon ein paar Jahre lang in Eschwege, einer Kleinstadt in Nordhessen. Geboren war sie in Kella, einem thüringischen Dorf 5 bis 6 Kilometer von Eschwege entfernt. Als Frau H. ihren Mann Fritz geheiratet hatte, war sie nach Eschwege gezogen und hatte ihre Schwester, die in Kella verheiratet war, dort zurückgelassen.

Aber das war ja nicht schlimm. Zwar lag Eschwege jetzt in der BRD und Kella in der DDR, trotzdem war Kella nicht weit weg, irgendwie konnte man sich immer besuchen, die paar Kilometer… Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre begann die DDR dann, Grenzanlagen zu errichten. Zäune, Wachtürme, Minenfelder, Sperrgebiete. Kella war so ein Sperrgebiet. Wer dort wohnte, durfte nicht hinaus. Und wer nicht dort wohnte, bekam keine Besuchserlaubnis. 1961 ging mit der Mauer das letzte Schlupfloch zu. Die Schwestern H. durften sich nicht wiedersehen.

Man nimmt an, dass der Name „Kella“ von Kehle kommt, einer anderen Bezeichnung für Schlucht, denn Kella liegt in einem sehr engen Tal. Oben, auf dem Meinhard, da war Westen. Von dort konnte man runter ins Tal sehen, nach Kella hinein.

Also begann Frau H., sich sonntags auf den Weg zu machen. Sie lief zu Fuß die 2 Kilometer nach Grebendorf und stieg dann weitere 3 bis 4 Kilometer den Meinhard hinauf, bis sie Kella sah. In Kella war am Sonntag keine Menschenseele auf der Straße zu sehen. Die Fenster der kleinen Häuser waren zu, die Läden geschlossen.

Trotzdem begann Frau H. zu winken. Vielleicht konnte ihre Schwester ja doch irgendwie, irgendwann mal nach oben lugen und sie sehen. Sehen, dass sie winkte. Dass ihre Schwester sie nicht vergessen hatte. Dass sie nach wie vor zusammengehörten.

Frau H. ging jeden Sonntag zu diesem Aussichtspunkt auf dem Meinhard. 5 bis 6 Kilometer hin und die gleiche Strecke zurück. Bei jedem Wetter. Und jeden Sonntag winkte sie, mindestens eine halbe Stunde lang. Ungefähr ein halbes Jahr lang. Bis der Brief kam.

Der Brief von ihrer Schwester aus Kella. Die schrieb, Frau H. möge bitte nicht mehr zum Winken kommen. Sie und ihre Familie hätten mittlerweile ernste Schwierigkeiten wegen der Winkerei. Es wäre besser, wenn das in Zukunft unterbliebe.

Frau H. ist fortan nur noch zwei, drei Mal im Jahr zu dem Aussichtspunkt gegangen und hat nach Kella runtergesehen. Gewunken hat sie nie wieder. Frau H. und ihre Schwester starben, bevor die Grenze 1989 wieder aufging. Sie haben sich nie wiedergesehen.

Das war die DDR. Ein Staat, der Angst vor einer winkenden Frau hatte. Da war nichts Gutes.

 

Wie ich einmal ein Zitat fälschte

Ich habe vor langer Zeit, als es noch kein Internet gab, ein Musical („Rotes Koma“) geschrieben. Damals war Schreiben noch ein eher mühseliges Geschäft, denn für vieles, was man heutzutage sekundenschnell mit ein paar Klicks recherchieren oder nachschlagen kann, musste man seinerzeit eine Bibliothek aufsuchen. Das machte ich damals einmal in der Woche, um dort meine angesammelten Rechercheaufgaben abzuarbeiten. Klappte ganz gut. Bis auf ein Mal…

Ich brauchte in dem Musical, in dem ein Sleeping Prince aus dem Jahr 1968 in einem West-Berliner Off-Theater aufwachte, um eine neue Revolte anzuzetteln 1 ein Lenin-Zitat, das in eine bestimmte Richtung wies. Meine persönliche Handbibliothek war in Sachen Lenin ein bisschen dünn bestückt, also schrieb ich die vorläufige Dialogzeile „Wie Lenin schon sagte: ‚Den richtige Mann an den richtigen Ort!'“ ins Libretto und machte mir eine Notiz, in der Bibliothek nach einem passenden echten Lenin-Zitat zu suchen. Leider hatte ich mir die Notiz wohl nur geistig gemacht, denn auf der ersten Leseprobe riss es mich beinahe vom Stuhl, als ich „Den richtigen Mann an den richtigen Ort!“ hörte. Um Himmelswillen, das Platzhalter-Zitat stand immer noch im Libretto. Ich musste sofort… oder wenigstens zeitnah… ganz, ganz bald… in die Bibliothek…

Anders als viele Menschen denken, hat der Autor während der Proben einer Musical-Uraufführung noch jede Menge zu tun, obwohl er das Stück schon Monate vorher scheinbar fertig gestellt hat. Musical ist Team-Arbeit, da arbeiten Regie, Choreographie, Komponist und Autor zusammen, bis das Stück „passt“. „Ich brauche hier noch einen Dialog während der ersten 8 Takte des Intros.“ – „Hier muss noch ein Mittelteil hin, so 4 Zeilen, möglichst ABAB, kannst du das mal schnell machen?“ – „Die Pointe geht im Musikeinsatz unter. Können wir was machen wie Pointe-Lacher-Überleitung?“ – „Der Gag ist schön,. funktioniert aber nicht. Ich mach einen neuen…“ Man schreibt während der Proben beinahe mehr als am Schreibtisch2 Wie dem auch sei, ich vergaß das Lenin-Zitat, bis ich es auf der 1. Hauptprobe wieder hörte: „Den richtigen Mann an den richtigen Ort!“

Mist. Immer wieder vergessen. Jetzt noch den Text des Schauspielers ändern und eventuell sein Nervenkostüm ruinieren? Keine Option! Außerdem hatte der Satz einen so schönen Rhythmus… Den würde ein korrektes Zitat vermutlich kaputt machen… Ach, was soll’s. Das Ding bleibt drin. Vielleicht merkt’s ja keiner.

Es merkte tatsächlich keiner, obwohl das Stück mehrfach nachgespielt wurde. Im Gegenteil, in zwei Kritiken wurde ich ausdrücklich für meine intimen Lenin-Kenntnisse gelobt, weil ich eben nicht auf das sattsam bekannte „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“- das in dieser Forum übrigens auch nicht von Lenin ist – ausgewichen war. Ich schämte mich ein bisschen.

  1. ja, es war ein ziemlich fetziges Stück
  2. Die besten Pointen fallen einem immer kurz vor der Generalprobe ein. Wirklich.