Der Akkord

Mein Leben teilt sich in die Zeit vor dem Akkord und nach dem Akkord. Die Rede ist von dem einleitenden Gitarrenakkord von „A hard day’s night“, gespielt von George Harrison auf einer 12seitigen Rickenbacker1 Es war der erste Beatles-Song den ich hörte, und er hat mein Leben verändert.

Ich war damals acht Jahre alt und hasste es, zum Friseur zu gehen. Denn der Friseur, zu dem man mich alle vier bis sechs Wochen schickte, im „Salon S.“ in der Friedrich-Wilhelm-Straße, ließ mir immer die abgeschnittenen Haare in den Nacken rieseln, wo sie ein fieses Juckwerk anrichteten. Ich versuchte mich, wann immer es ging, vor dem Friseurbesuch zu drücken, vergeblich. Mein Vater hielt auf Ordnung, der Junge musste mit anständigem Haarschnitt zur Schule gehen.

Dann las ich in unserer Lokalzeitung, der Werra-Rundschau, einen Artikel über „Pilzköpfe“. Damit waren Mitglieder einer englischen Musikgruppe namens „The Beatles“ gemeint, die im Verweigern von Friseurbesuchen offensichtlich wesentlich erfolgreicher waren als ich. Diese Musiker begannen, mich zu interessieren. Leider konnte ich mir die Musik, die diese Gruppe machte („Beat-Musik“, lt. Werra-Rundschau) nicht anhören. Über die Radioapparate unseres Haushalts waren nur der Hessische Rundfunk und die infamen Ost-Sender zu empfangen, der riesige Funkschatten, den der Hohe Meißner warf, verhinderte den Empfang von Sendern wie Radio Luxemburg, die dieser neuen Musik aufgeschlossener gegenüberstanden als der HR, der von morgens bis zu meiner (frühen) Bettzeit nur schwer erträgliche Schlagermusik absonderte.

Dann entdeckte ich im Schaufenster von „Musikhaus Schneider“2 diese Platte.

Die waren tatsächlich viel länger nicht beim Friseur gewesen als ich. Die Platte musste ich haben, klar. Aber damals kostete eine Langspielplatte bei Frau Schneider (und überall) satte 22 18 DM4. Doch dann dachte ich ein wenig nach. Ich war – als Sohn in einem gut situierten bürgerlichen Haushalt – doch nicht ganz mittellos. Ich bekam immer wieder ein bisschen was zugesteckt, Geld für ein Eis oder eine Tüte Waffelbruch… Wenn ich anfing, das zu sparen, anstatt es sofort wieder auszugeben? Wenn ich 2 Mark im Monat zurücklegte, hätte ich nach elf Monaten die Platte. Eine lange Zeit, aber das Projekt bekam den Anschein von Machbarkeit. Wenn ich vielleicht noch etwas dazu verdienen könnte?

Am nächsten Morgen trat ich mit meiner konsternierten Mutter in durchaus komplexe Verhandlungen, die Tarife für meine freiwillige Mitwirkung in Haushaltsangelegenheiten über das übliche Maß hinaus festlegten5. Meine Mutter erwies sich als Unternehmerstochter als die erwartet harte Verhandlungspartnerin, ich zog als unerfahrener Verhandler erwartbar den kürzeren, aber – um das ganze abzukürzen – wenn ich mich richtig reinhängte, könnte ich „A Hard Day’s night“ in sechs Monaten kaufen.

Ich schaffte es in fünf. Frau Schneider staunte nicht schlecht, als ich eine imposante Menge Kleingeld auf ihrem Tresen deponierte, und, nachdem sie mein Erspartes zweimal nachgezählt hatte, händigte sie mir das erste Beatles-Album meines Lebens aus. Ich trug meinen Schatz nach Hause, schaltete die „Musik-Truhe“6 im Wohnzimmer ein, legte die Platte auf und senkte den Tonabnehmer ab. Dann kam der Akkord.

Er traf mich vollkommen unvorbereitet und stellte meine Welt in einer Hundertstelsekunde auf den Kopf. Bis ich diesen Akkord gehört hatte, war ich ein kleiner Junge gewesen, der darauf gedrillt wurde, still zu sein, jederzeit zu gehorchen und sich unterzuordnen. Georges Rickenbacker lehrte mich im Bruchteil einer Sekunde, dass es vollkommen okay war, laut zu sein. Unangepasst. Jung. Frech. Dass es mein Leben war, und dass das nicht unbedingt das sein musste, was mein Vater für mich vorgesehen hatte. Und dass ich in der grandiosesten aller Zeiten lebte, in der eine fantastische Musik wie diese gespielt wurde. Mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Mein Vater war ein ziemlich harter Knochen, mit dem ich in Zukunft einige ziemlich harte Kämpfe auszufechten hatte. Aber ich war siegesgewiss: Ich hatte ja die Beatles an meiner Seite7.

Eine Woche später nahm ich im „Salon S.“ im Friseurstuhl Platz und sagte: „Einmal Kämmen, bitte!“

Mutters Essen: Knödel mit Geschichte

Das Leibgericht meines aus Ostpreußen stammenden Vaters wurde in unserer Familie nur „Knödel“ genannt. Es handelte sich um mit gekochtem Rindfleisch angereicherte, flache Kartoffelknödel aus rohen und gekochten Kartoffeln, „halb und halb“, wie man sagt. Merkwürdigerweise steht dieses Gericht in keinem der mir bekannten ostpreußischen Kochbücher, und auch in der Ostpreußen-Ecke des Internet konnte ich es nicht auftreiben. Dort finden sich nur „Königsberger Keilchen“ bzw. „Knödel aus Goldap“, beides mit „Halb und Halb“-Knödeln, jedoch mit gebratenem Schweinefleisch, das separat dazu gereicht wird. Im Raum Salzburg findet sich jedoch ein Gericht namens „Restl-Knödel“, das „unseren“ Knödeln ähnelt, jedoch auf Semmelknödel-Basis zubereitet wird. Im 18. Jahrhundert kam eine größere Zahl Einwanderer aus Salzburg nach Ostpreußen, die haben das Rezept wohl mitgebracht und Kurbjuhns haben’s dann abgewandelt.

Es braucht
1 Packung Kloßteig „halb und halb“ aus dem Kühlregal8
Rindfleisch (Beinscheibe z. B.)
Suppengrün
Zwiebeln
Knoblauch

Aus Rindfleisch und Suppengrün eine kräftige, klare Brühe kochen. Das Rindfleisch abkühlen lassen, kleinschneiden und ca. 300g davon mit dem Kloßteig, dem auch noch weichgedünstete Zwiebeln und etwas Knoblauch hinzugefügt werden, verkneten. Flache Knödel in Handteller-Größe formen und in der gerade nicht mehr kochenden Brühe gar ziehen lassen. In einer Terrine zu Tisch bringen.

Klingt simpel? Ist simpel, wenn man den fertigen Kloßteig nimmt. Durch das Rindfleisch bekommen die simplen Kartoffelknödel zusätzlich Geschmack und eine sympathische  Deftigkeit. Ich aß das durchaus gern, am liebsten hab ich zu Hause zugelangt, wenn am nächsten Tag die übriggebliebenen Knödel halbiert und in der Pfanne braun gebraten wurden. Es blieben jedoch selten welche übrig, denn diese Knödel waren das Lieblingsessen meines Vaters und meines lieben Bruders Matthias. Dazu gibt’s eine Geschichte.

Mein Vater war mit einem formidablen Appetit gesegnet. Ein Rührei aus sechzehn Eiern zu verdrücken, war für ihn kein Problem, im Gegenteil, hinterher schmierte er sich noch ein oder zwei Scheiben Toast mit Marmelade. Zu absoluter Topform lief er auf, wenn’s Knödel gab, sein Leibgericht, da steckte er regelmäßig eine außerirdische Portion weg. „Das ist doch alles nicht mehr wahr …“ habe ich meine Mutter einmal murmeln hören, als sie eine Terrine mit frischen Knödeln und Brühe aus der Küche an den Esstisch brachte.

Immerhin, mein lieber Bruder Matthias konnte bei diesem Gericht, das in seiner kulinarischen Hitliste ebenfalls die Nummer eins war, durchaus mit meinem Vater mithalten. Natürlich stellte sich irgendwann die Frage, ob Matthias tatsächlich mehr Knödel verdrücken konnte als unser Vater, und natürlich gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Es wurde ein Wettessen anberaumt.

Die Druckerei meines Vaters war gegenüber, er kam zu jedem Mittagessen nach Hause. Am Wettkampftag traf er, wie immer, um kurz nach eins ein. Die Kontrahenten saßen über Eck nebeneinander, vor ihnen nur die Suppenterrine mit den Knödeln, die regelmäßig aufgefüllt wurde, und die obligatorische Maggi-Flasche. Bis zum zwölften Knödel verlief alles in den üblichen Bahnen, Matthias und mein Vater aßen mit gutem Appetit und unterhielten sich dabei. Ab Knödel Nr. 13 wurde Matthias merkwürdig schweigsam, beim 14. begann er zu schwitzen, ab dem 15. musste er ernsthaft kämpfen und der 16. Knödel war sein letzter, dann gab er auf.

Mein Vater ließ es nicht beim 17. Knödel bewenden. Er sah die einmalige Chance, sich zum „Undisputed Lifetime-Champion in the Knödel-Wett-Eating“ oder so aufzuschwingen9. Er verzehrte locker-beschwingt sagenhafte 22 Knödel, bevor ihn das Ende seiner Mittagspause zwang, den Löffel widerstrebend aus der Hand zu legen und zur Arbeit zu gehen.

Derartige Ereignisse haben immer ein Nachspiel, und dieses machte keine Ausnahme. Das Nachspiel ereignete sich am Abend desselben Tages, am Abendbrotstisch, an dem mein Vater dem Ganzen die Krone aufsetzte. Matthias hatte sich, appetitlos mit Bauchschmerzen ringend, auf sein Zimmer zurückgezogen. Ähnliches hatten wir nach seiner kapitalen Leistung von meinem Vater erwartet, der jedoch zur allgemeinen Überraschung am Esstisch auftauchte, und mit bestem Appetit in aufgeräumter Stimmung seine üblichen drei, vier Scheiben Brot mit allerlei Aufschnitt aß. Dazu trank er zwei, drei Tässchen starken Ceylon-Tee und verzog sich dann ins Wohnzimmer, wo Bier und Mosel-Riesling warteten. Und ein paar Salzletten. Falls man noch Appetit bekam.

Wie man für Kabarett schreibt

„Es gibt nur zwei Sorten von Kabarettnummern: die Umkehrung und den Rasierspiegel. Diese zwei Möglichkeiten haben Sie, wenn Sie zu einem Thema eine Nummer schreiben sollen. Wenn Sie die Umkehrung benutzen, dann drehen Sie das, was alle schrecklich finden sollen, einfach um, und finden es ganz toll. Oder, dann benutzen Sie den Rasierspiegel, Sie nehmen sich ein Detail des Themas raus und blasen es zur Übergröße auf, bis es grotesk wird. Ich sag Ihnen ein Beispiel. Sie sollen was über Neonazis schreiben. Dann schreiben Sie eine Nummer mit dem Vater eines solchen Idioten, der alles ganz toll findet, was sein Idiot von Sohn so treibt. Das ist die Umkehrung. Oder Sie schreiben, wie der Vater total stolz darauf ist, dass sein Sohn gelernt hat, sein Werkzeug tiptop sauber und in Ordnung zu halten, Und als Schlusspointe zeigen Sie, dass es sich um Waffen handelt, Totschläger, Schlagringe undsoweiter, Das wäre dann der Rasierspiegel.“

Diesen Kurzvortrag hielt mir der damals nach neuen Textern suchende Rolf Ulrich anfangs der Neunziger Jahre in seinem Büro im Europa-Center, in das mich der  Erfolg meines ersten Musicals gespült hatte. Das ist tatsächlich klassisches Kabarett „in a nutshell“ und war mir in den darauffolgenden vielen Jahren, in denen ich Nummern und Programme für Kabarettisten und Kabarett-Häuser geschrieben hab, ein extrem wertvoller Leitfaden. Natürlich hat sich der Kosmos des Kabaretts mittlerweile stark erweitert. Man kann, wenn man denn will oder soll, natürlich auch ganz andere Nummern schreiben. Aber das ist die Basis, von der alles kommt, und auf die man als Texter immer zurückkehren kann, besonders, wenn man mal nicht weiter weiß. Nochmals danke dafür, Herr Ulrich.

So, Pflicht erfüllt, Handwerk ebenfalls weitergereicht.

Einfache Wahrheit

 

Eine der wertvollsten politischen Lektionen meines  Lebens erhielt ich vor beinahe 30 Jahren, auf unserer Hochzeitsreise. Die beste, geduldigste Gemahlin von allen und ich verbrachten zwei wunderbare Wochen auf Antigua, lernten Tauchen, lagen in der Sonne und schauten uns die wunderbare Insel an, die damals politisch fest in der Hand der Familie Bird war. Vere Bird war lange Jahre Premierminister gewesen und hatte, als er über einen seiner zahlreichen Skandale gestolpert war, das Amt an seinen Sohn Lester übergeben, der die gleiche Politik der „aufgehaltenen Hand“ wie sein Vater betrieb. Die Käuflichkeit der beiden war legendär und inselweit bekannt. Außerdem logen sie ständig, dass sich die Balken bogen. Trotzdem pflegten sie die Wahlen verlässlich mit großem Vorsprung zu gewinnen, was mir nicht in den Kopf wollte.

Ich hatte mich während unseres Aufenthalts mit einem Tourist-Guide angefreundet, wir unterhielten uns angeregt über Gott und die Welt, und so fragte ich ihn einfach mal, warum denn die Birds auf Antigua immer wieder gewählt wurden, obwohl sie schon zigmal mit den Fingern in der Staatskasse erwischt worden waren. Seine Antwort war ebenso einfach wie verblüffend: „Natürlich wissen wir, dass die klauen. Sie tun aber auch was für Antigua. Bei denen von der Opposition wissen wir nicht, ob die vielleicht nur klauen.“

Diese einfache Wahrheit erklärt manches Wahlergebnis, damals und heute.

Der prägende Moment meiner Schulzeit

1963 marschierte ich mit meiner Zuckertüte im Arm in die Struthschule rein, 1975 ging ich mit dem Abiturzeugnis in der Tasche aus der Friedrich-Wilhelm-Schule wieder raus. In diesen 13 Schuljahren10 war ich, ehrlich gesagt, die meiste Zeit nur anwesend aber nicht bei der Sache. Schule eben. Das meiste, was mir in den Klassenzimmern der von mir besuchten Schulen mitgeteilt wurde, habe ich mir gar nicht erst zu merken versucht. Einen Augenblick allerdings gab es, der sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hat, einen einzigartigen Moment, in dem mir schlagartig klar wurde, dass mir hier nicht irgendein Schulwissen-Quatsch vorgekaut, sondern eine spielentscheidende Lebensweisheit vermittelt worden war.

Es war die erste Chemiestunde in der Obertertia, wir saßen wenig aufnahmefroh im soeben für einen horrenden Betrag renovierten Chemiesaal der FWS, als – leider pünktlich wie immer – unser Chemielehrer Dr. Zöll hereinkam. Routinemäig griff er neben die Tür, um den Lichtschalter zu betätigen. Aber der gewohnte, ihm zweifellos liebgewordene schwarze Drehschalter war durch einen weißen, großflächigen Kippschalter ersetzt worden. Dr. Zöll beäugte diese ultramoderne Vorrichtung misstrauisch wohl eine ganze Minute lang und ging schließlich das Risiko ein, den Schalter zu betätigen. Mehrfach. Licht an. Licht aus. Licht an. Licht aus. Schien zu funktionieren … doch unvermittelt hieb Dr. Zöll plötzlich mehrfach mit der geballten Faust auf den infamen Kippschalter, bis der – funktionslos geworden – aus der Wand herausbaumelte und das Licht sich mit ihm nicht mehr ausschalten ließ. Dr. Zöll nickte befriedigt und sagte: „Alles Neue taugt nichts.“

Diesen Satz habe ich mir gemerkt, er war die Quintessenz dessen, was mir während meiner Schulzeit vermittelt worden war. Veränderung ist schlecht. Drehschalter sind für die Ewigkeit. Amen.

Die beste Mahlzeit meines Lebens

… habe ich genossen, als ich sie noch gar nicht würdigen konnte. Ich war schlanke11 17 Jahre alt, als unser tollkühner Klassenlehrer uns in zwei VW-Busse packte, um mit uns 14 unvergessliche Tage lang den Süden Frankreichs zu erkunden. Tarrascon, Arcachon, die Camarque … plötzlich wurde der Horizont auch für den engstirnigsten Nordhessen wunderbar weit. Auch, was das Essen anbelangt, denn das, was in Frankreich auf die Teller kam, war tatsächlich Lichtjahre von dem entfernt, was im Kreis Eschwege aufgetischt wurde. Einige meiner Klassenkameraden sehnten sich bald nach Bratwurst und Krautshäuptchen zurück, aber bei mir begann die lebenslange Liebesgeschichte mit der französischen Küche in diesen Tagen. Genauer gesagt, an einem der letzten Tage unserer Klassenfahrt, an denen unsere VW-Busse und Zelte auf dem Campingplatz „Les cent chênes“ in St. Jeannet standen, nur wenige Kilometer von Nizza entfernt. Auf dem Campingplatz gab es zwar eine Bar mit jeder Menge leckerer Getränke, aber kein Restaurant. Man konnte allerdings eine Bouillabaisse bekommen, wenn man sie drei Tage im Voraus bestellte. Diese Bouillabaisse wurde von Madame Oddo zubereitet, der Chefin der Campingplatz-Betreiber-Familie, einer Matriarchin von beeindruckender Autorität. Am Tag nach der Vorbestellung schwärmten die Familienmitglieder zu den Fischern der Umgebung aus und bestellten die Fische für die Suppe vor. „Dans ma bouillabaisse, il y a chaque poisson de la Méditerranée.“ war das Credo von Madame Oddo, und am Tag des Bouillabaisse-Essens schwärmten die Familienmitglieder erneut aus und holten die bestellten, am selben Morgen gefangenen Fische ab.

Am Abend wurde aufgetischt. Auf der großen Wiese hatten die Oddos eine lange Tafel aufgebaut, an der wir Platz nehmen durften. Dann wurden Platten mit den im ganzen gekochten Fischen aufgetragen, Terrinen mit dem Sud, in dem sie gegart worden waren und Schalen mit einer scharfen, knoblauchlastigen Paste, die verwirrenderweise so hieß wie mein Schulfreund Rudi, dessen Namen wir mit stimmlosem „d“ auszusprechen pflegten. Dazu noch jede Menge knuspriges Baguette vom Bäcker in St. Jeannet, das kannten wir schon.

Von den Fischen, die da auf den Platten vor uns lagen, kannte ich keinen einzigen, die waren im Biologie-Unterricht von Dr. Zöll nicht vorgekommen. Auch vom Entgräten von Fischen hatte ich keine Ahnung, aber was machte das schon? Neuland war damals noch dazu da, betreten zu werden, ich zerfetzte zwei Fische, kippte mir Suppe und Rouille drauf, trank mir mit etwas Weißwein Mut an und legte los.

Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Eher im Gegenteil. Dafür hatte ich zu viele Gräten im Fischfleisch übersehen, dafür war der safranisch-fenchelige Geschmack der Suppe zunächst zu fremdartig, die Rouille für meinen noch ungestählten Gaumen zu scharf. Aber es schmeckte nur ungewohnt, nicht schlecht. Weißwein half. Und als ich meinen Teller geleert hatte, zerfetzte ich zwei weitere Fische und begann, mich wohl zu fühlen. Sehr wohl zu fühlen. Mir war klar, dass dieses wunderbare Essen mit meinen Klassenkameraden und meinem Lehrer auf der Lichtung im Eichenwald, unter dem blauen Himmel der Cote d’Azure, eine der Mahlzeiten war, die ich niemals vergessen würde. Was konnte es schöneres geben, als mit Freunden im Schatten französischer Eichen Bouillabaisse zu essen, umgeben von Knoblauchduft und goldener Zukunft?

Heute weiß ich, dass das allein schon wegen der Frische und der Vielfalt der verwendeten Fische eine absolut sensationelle Bouillabaisse gewesen sein muss. Ich würde einiges geben, sie noch einmal kosten zu dürfen. Oder doch lieber nicht. So gut, wie sie in meiner Vorstellung mittlerweile ist, kann sie ja gar nicht gewesen sein. Oder … vielleicht doch?

Filet Wellington „für Arme“

Foto: cyclonebill from Copenhagen, Denmark, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons

Wer sich für gute Küche interessiert, gerät früher oder später an das berühmte „Filet Wellington„, einen Klassiker der feinen Küche, der seit Jahrzehnten auf den Speisekarten der gehobenen Gastronomie zu finden ist. Was einigermaßen erstaunlich ist, denn von der Rezeptur her ist das Wellington kein Musterbeispiel für kulinarische Logik. Hauptbestandteil ist Rinderfilet, ein mangels Marmorierung nicht gerade mit Eigengeschmack gesegnetes Stück Fleisch, dass dann prompt noch mit „allem, was gut und teuer ist“ (Blätterteig, Duxelles, in früheren, unerschrockenen Zeiten auch noch Gänseleberpastete) beballert wird, sodass ein Gericht entsteht, das an die Spielweise klassischer Mittelstürmer im Fußball erinnert: es will eher durch Wucht als durch Finesse überzeugen.

Am Anfang meiner kulinarischen Karriere (Ende der 70er) hatte ich auch einmal ein „Wellington“ auf dem Teller. Ich war neugierig auf dieses Gericht gewesen (Siebeck hatte es, glaube ich, mal beschrieben) und da damals ein Restaurantbesuch mit Wellington-Order und Gedöns drumrum (Vorspeise, Dessert, ordentlich Wein) außerhalb meiner finanziellen Möglichkeiten lag, hab ich es selbst zubereitet. Da ich in Sachen Duxelles, Filet und Blätterteig ein Novize war, schob ich eine Art Generalprobe vor und spielte das Gericht mit preiswerteren Produkten schon einmal durch, also eine Art Filet Wellington für Arme bzw. „pour les pauvres“, wie der frankophile Hobbykoch es nannte. Ich briet ein Schweinefilet scharf an und ließ es abkühlen, machte eine Duxelles, indem ich Champignons durch den Fleischwolf drehte12, in einem Küchenhandtuch ausdrückte und mit Schalotten in reichlich Butter briet und als Gänseleber-Ersatz pimpte ich hundsordinäre Kalbsleberwurst mit Weißwein, Creme Fraiche und frischen Kräutern. Diese beiden Pampen strich ich dann auf das Schweinefilet und wickelte die ganze Chose in Blätterteig, den ich mit Eigelb bestrich. Das Gesamtpaket schob ich bei 200 Grad in den Offen, bis der Blätterteig golden aufgegangen war, das hat so ungefähr 25 bis 30 Minuten gedauert, wenn ich mich recht entsinne.

Die Generalprobe klappte hervorragend, und das „richtige“ Wellington, das ich ein paar Tage später zubereitet habe, war dann küchentechnisch auch kein Problem mehr. Trotzdem war ich mit dem Ergebnis nach zwei, drei Bissen nicht wirklich zufrieden. Das war zu klobig, zu klotzig, um wirklich delikat zu sein. Ähnlich ging es vor ein paar Tagen der geschätzten Frau Kaltmamsell, die bei einem Restaurantbesuch mit einem Wellington als Hauptgang ebenfalls nicht ganz glücklich war. Für mich war das Filet Wellington ein kulinarischer Ort, den man einmal aufsucht, um ihn kennenzulernen und anschließend anderswohin fährt, weil’s einem dort besser gefällt. Nicht, dass es mir nicht geschmeckt hätte, im Gegenteil, es war bei mir wohl auch ein Fall von übergroßer Erwartungshaltung.

Hinzu kam, dass mir idiotischerweise das Generalproben-Gericht, dass „Wellington für Arme“ besser gefallen hatte als das Original. Das Schweinefilet mit der Duxelles und der aufgebohrten Leberwurst hatte eine sympathische, direkte Deftigkeit mit  Spurenelemente von Delikatesse, das hatte Spaß gemacht. Ich hab dann die „arme“ Version für ein paar Jahre ins Repertoire aufgenommen und gelegentlich für Gäste gekocht. Vielleicht mach ich’s dieser Tage mal wieder. Dann schieb ich ein Foto nach.

Mutters Essen: Reisauflauf

Dieser Auflauf war das Lieblingsessen meiner Kindheit und Jugend. Den wünschte ich mir immer als Geburtstagsessen, und auch zwischen den Geburtstagen kam er öfters auf den Tisch. Gleichzeitig ist er typisch für die Küche meiner Mutter: relativ wenige Zutaten, aber immer ein, zwei Gewürze dabei, die für einen interessanten Geschmack sorgen. Und: Raffinesse nebst Sorgfalt bei der Zubereitung. Wer hier aus Bequemlichkeit schummelt und zum Beispiel das Anbraten des Reises (spielentscheidend!) weglässt, raubt dem Gericht seinen Charakter. Aber der Reihe nach, zuerst die Zutaten (für eine Auflaufform, vier bis sechs Personen, drei wenn ich mitesse):

350 g Reis
1 Pfund Gehacktes halb und halb
zwei Zwiebeln
1 Tube Tomatenmark13
Brühe 14
Käse zum Überbacken15
Curry, Paprikapulver, neutrales Öl, Butter für die Auflaufform

Die Zwiebeln schälen und in kleine Würfel schneiden, in der Pfanne in etwas neutralem Öl glasig schwitzen lasse. Dann das Gehacktes dazugeben und unter Rühren krümelig braten, salzen, pfeffern, beiseite stellen.
In einem Topf 2 bis 3 Esslöffel Öl auf mittlere Hitze bringen, den Reis geduldig (5 bis 10 Minuten) darin anbraten, rühren, damit er nicht anbrennt. Wenn der Reis goldbraun ist, mit etwas mehr als einem halben Liter Wasser plus Brühwürfel ablöschen, zwei, drei Teelöffel Curry dazu, nach dem Aufkochen die Hitze runterdrehen und 20 Minuten quellen lassen. Ja, das ist zu wenig Wasser, aber er kommt ja noch mit zusätzlicher Flüssigkeit für eine halbe Stunde in den Ofen.
Wenn der Reis gequollen ist, das Tomatenmark, Paprikapulver nach Belieben, eine weitere Tasse Brühe und das gebratene Gehacktes unterrühren, salzen und pfeffern. Das alles in eine gebutterte Auflaufform geben, dick mit Käse (Mozzarella kommt ganz gut) bestreuen und bei 180 Grad eine halbe Stunde in den Ofen schieben, und dann ist fertig.

Meine Mutter hat immer „wegen der Vitamine“ einen grünen Salat dazu gereicht, das ist okay, wenn man sich nicht an der Unlogik stört, etwas Kaltes zu etwas Warmem zu essen. Auf keinen Fall sollte man je die Menge des Auflaufs reduzieren, auch wenn man nur für zwei Personen kochen möchte. Seine wahre Stärke offenbart der Reisauflauf nämlich erst aufgewärnt, wenn er mit ordentlich Butter in der Pfanne knusprig aufgebraten wird. Wahnsinn.

Leider bin ich, bis ich mit 18 Jahren auszog, daran gescheitert, meine Mutter davon zu überzeugen, den Reisauflauf einen Tag vor meinem Geburtstag auf den Tisch zu bringen, damit ich als eigentliches Geburtstagsessen die aufgebratenen Reste genießen konnte. Auf meine fundierten, wohl abgewogenen Argumente antwortete sie, wie so oft, nur mit hochgezogenen Augenbrauen bzw. einem unverständlichen Gemurmel, das sich in etwa wie „Geburtstagsessen einen Tag früher, das könnte dir so passen.“ anhörte. Tja.

 

Kopfwäsche von Herrn Flach

Foto von Karl-Hermann Flach

Archiv des Liberalismus, Bestand Audiovisuelles Sammlungsgut, F5-1 / CC-BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Anfang der 70er Jahre waren wir alle politisch. Als 1969 Willy Brandts sozialliberale Koalition begann, den Muff von 20 Jahren CDU-Vorherrschaft wegzupusten, als mit den Ostverträgen „Wandel durch Annäherung“ versucht wurde, kurz, als die Dinge sich tatsächlich zu verändern begannen, ließ das niemanden kalt. Wir begannen, nachzudenken, bezogen Stellung, diskutierten … die Dinge erschienen auf einmal veränderbar, und man wollte mitmachen, mit verändern, sich einbringen. Es war eine schöne, sehr aufregende Zeit, in der ich zu überlegen begann, ob nach Abitur und Studium die Politik nicht etwas für mich wäre..

Ich schloss mich Anfang der 70er Jahre den Jungdemokraten an. Die Ideen des Liberalismus beseelten den idealistischen jungen Kerl, der ich damals war, und die Judos hatten damals ein großes Thema, das mich umgetrieben hat: die Trennung von Kirche und Staat. Ich  empfand die Privilegien, die die evangelischen und katholischen Kirchen hierzulande genossen und weidlich ausnutzten als schlichtweg inakzeptabel, ebenso wie die Rollen, die sie im öffentlichen Diskurs spielten.

1973 fand der Landesparteitag der hessischen FDP in Eschwege statt, unser Ortsverband organisierte die Veranstaltung, und meine Aufgabe war es, die Abstimmungen auf dem Parteitag zu organisieren. Ich musste Wahlhelfer beschaffen und einweisen, die die Stimmzettel einsammelten, musste darauf achten, dass alles ordnungsgemäß ablief, die Ergebnisse übermitteln etc. Das klappte ganz gut, die ganze Sache war auch nicht sonderlich schwer zu managen. Als Gegenleistung für mein Engagement dürfte ich mir eine Begegnung mit einem FDP-Politiker wünschen, der am Parteitag teilnahm. Ich hab keine tausendstel Sekunde überlegt und bat um ein Gespräch mit Karl-Herrmann Flach. Flach war damals der Superstar des Linksliberalismus, er war der spiritus rector hinter den „Freiburger Thesen“, und sein Buch „Noch eine Chance für die Liberalen“ hatte ich mehrmals gelesen.

Kurz nach dem Schlusswort des Parteitags war es dann so weit, ich wartete im „Zählzimmer“ hinter der Bühne der Eschweger Stadthalle, und dann flog die Tür auf und Karl-Hermann Flach kam herein. „Ich habe höchstens eine Viertelstunde, was wollen Sie wissen?“

Natürlich hatte ich mir gut überlegt, was ich Flach fragen wollte, und so sprach ich das damals aktuelle „Kirchenpapier“ der Jungdemokarten an, in dem wir die Trennung von Kirche und Staat forderten, und fragte ihn, wie man diese Trennung in die Wirklichkeit umsetzen könne. Mit allen möglichen Antworten hatte ich gerechnet, aber nicht mit der, die Herr Flach mir gab: „Gar nicht. Das ist kompletter Unfug, den Sie vergessen sollten. Wenden Sie sich anderen Dingen zu!“

Wenn er beabsichtigt hatte, mir jegliche Scheu vor sich zu nehmen und mich auf hundertachtzig zu bringen, war ihm das gelungen. Natürlich widersprach ich dem „Unfug“ und verteidigte unser politisches Anliegen. Aus der Viertelstunde, die Flach mir zugestanden hatte, wurde ein anderthalbstündiger Streit, der immer wieder von Flachs zum Aufbruch mahnendem Fahrer unterbrochen wurde. Flach argumentierte nicht in der Sache gegen mich: Die Trennung von Kirche und Staat wäre ein lobenswertes Ziel, das aber nicht verwirklicht werden könnte. Schon gar nicht von einer kleinen Partei wie den Liberalen, die ein derart fundamentales Vorhaben nur mit Verbündeten umsetzen könnte, und die würden sich nicht in der SPD und schon gar nicht bei der CDU finden lassen. Niemand würde es sich mit der eigenen, christlich orientierten Klientel verscherzen wollen. Und noch viel wichtiger: Wenn man auch nur versuchen würde, ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, würde man eine riesige Angriffsfläche bieten, und die Angreifer konnten sich der Unterstützung der mächtigen Kirchen sicher sein. Ein Vorhaben wie die Trennung von Kirche und Staat sei schlicht nicht realisierbar.

Dieser Argumentation hatte ich – außer meinem plötzlich ein wenig deplatziert wirkenden Idealismus – wenig entgegenzusetzen. Und auf meinen Einwand „Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer war doch vor ein paar Jahren auch noch eine reine Utopie, was ist da der Unterschied zur Trennung von Kirche und Staat?“ hatte Flach auch eine Antwort: „Die Mitbestimmung einzuführen, hat sich als eine Frage der Vernunft erwiesen. Das kann man öffentlich mit Gewinn diskutieren. Bei der Kirche ist immer etwas Irrationales mit im Spiel, auf das Terrain will man sich nicht begeben.“

Als Herr Flach sich nach anderthalb Stunden verabschiedete, war ich einigermaßen verdattert. Ich hatte mir von ihm etwas gänzlich anderes erwartet als eine Lehrstunde in politischem Pragmatismus. Aber ich musste mir auch eingestehen, dass ich seiner Argumentation nichts entgegenzusetzen gehabt hatte: Der Mann hatte in der Sache schlicht recht gehabt und meinem Idealismus die Grenzen aufgezeigt. Ich beschloss, mir für ein weiteres Treffen – das Flach mir beim Abschied versprochen hatte – etwas einfallen zu lassen und mich besser vorzubereiten.

Dazu kam es dann nicht mehr. Nur wenige Wochen später saß ich geschockt vor dem Fernseher, als in der Tagesschau sein plötzlicher Tod vermeldet wurde: Schlaganfall. Das war ein immenser Verlust, und ich frage mich heute noch, wie anders sich dieses Land und die FDP entwickelt hätten, wenn Flach nicht so früh gestorben wäre.

Das anderthalbstündige Gespräch mit diesem außergewöhnlichen Mann hat mein Leben und Denken nachhaltig geprägt. Je mehr Jahre vergingen, desto klarer wurde mir, wie Recht Flach gehabt hatte. Von der Trennung von Kirche und Staat sind wir heute noch beinahe genauso weit entfernt, wie damals, auch wenn der Einfluss der Kirchen mittlerweile deutlich geringer ist als damals. Wie wichtig Pragmatismus ist, hat Flach nachhaltig in meinem Denken verankert. Heute weiß ich, dass die dollsten idealistischen Ideen nur Stammtischparolen bleiben, wenn man keinen Weg weiß, wie man aus ihnen Wirklichkeit machen kann. Und weil mir noch als Jugendlicher klar wurde, dass meine Ideen sich meist einen Scheiß darum scherten, ob sie in die Wirklichkeit passen oder nicht, hab ich das mit der Politik sein lassen und bin zum Theater gegangen. War damals eine gute Entscheidung, die ich auch der Kopfwäsche von Karl-Hermann Flach zu verdanken habe.

Neuss zum Hundertsten

Heute wäre Wolfgang Neuss 100 Jahre alt geworden. Es ist schlichtweg erbärmlich, dass die Mehrheit der Deutschen mittlerweile denkt, dass einer der größten Kabarettisten unserer Zeit, der von 1950 bis 1970 Ost und West den Spiegel vorgehalten hat wie kein anderer, ein in mehrfacher Hinsicht zahnloser, leicht verwirrter Hippie war, dessen Lebensleistung darin bestand, einen Bundespräsidenten „Ritchie“ genannt zu haben. Leute, der Hippie war nur ein müder, harmloser Abklatsch vom richtigen Neuss. Hier sind ein paar Minuten vom Original: