Olympische Gänsehaut-Momente I: Der Kran

Seit Freitag laufen diese dubiosen Spiele, die ich ja nicht gucken mag, aber die ganzen zweieinhalb Wochen ohne Spocht? Geht gar nicht. Deshalb hab ich youtube nach ein paar ollen Olympia-Kamellen abzusuchen, die ich hier in den nächsten Tagen vorzeigen werde. Paar Gänsehaut-Klassiker, aber auch ein paar Sachen, die ich mir selbst erst wieder ins Gedächtnis rufen musste. Den heutigen Moment allerdings nicht, wenn man das einmal gesehen hat, kann man‘s nie mehr vergessen.
Stichwort Ringen. Für mich eine etwas gewöhnungsbedürftige Sportart. Männer verschiedener Gewichtsklassen grapschen aneinander herum, bis einer den anderen umgeworfen hat. Big Deal. Nichtsdestoweniger hat die Sportschau in den Sechziger Jahren gern und ausführlich Ringen gesendet, und so war auch ein Ringer-Muffel wie ich vertraut mit Wilfried Dietrich, der in jeder, aber auch wirklich jeder Sportschau als der „Kran von Schifferstadt“ bezeichnet wurde. Vermutlich hatte die ARD seinerzeit diesen Spitznamen-Witz für teuer Geld eingekauft, und deshalb musste er so oft wie möglich verwendet werden. „Und jetzt kommt Wilfried Dietrich, der Kran von Schifferstadt…“ „Wilfried Dietrich, den man ja nicht nur in Schifferstadt den Kran von Schifferstadt nennt…“ „Vielleicht wissen ja einige von Ihnen noch nicht, dass Wilfried Dietrich auch der Kran von Schifferstadt genannt wird…“ Auch wenn es einem physiologischen Wunder gleich kommt, so ein Kran kann einem tatsächlich ganz weit aus den Ohren heraushängen.
Wie dem auch sei, 1972 trat Wilfried Dietrich, der… nein, ich schreib es nicht… also, unser Wilfried Dietrich trat noch mal bei den Spielen in München an, ohne dass ihm irgendjemand allzu viel zutraute. Der… Ringer Wilfried Dietrich hatte seine beste Zeit schon hinter sich, mehr als ein achtbares Abschneiden war wohl nicht drin, und tatsächlich reichte es letztlich nicht zu einer Medaille. Aber wer interessierte sich denn 1972 noch für Wilfried Dietrich? Tagesgespräch war der amerikanische Ringer Chris Taylor, mit fast 200kg der schwerste Olympiateilnehmer aller Zeiten, der im Freistil eine Bronzemedaille errungen (ha!) hatte. Alle Welt rätselte, ob dieser Koloss überhaupt ringen konnte, oder ob er einfach dadurch gewann, dass er sich auf seine Gegner drauflegte und sie unter seinen vier Zentnern begrub. Und als dann unser Kr… Wilfried Dietrich mit seinen damals 39 Jahren in Griechisch-Römisch gegen dieses Riesenbaby antreten musste, war die Frage nicht: „Kann er das gewinnen?“, sondern die Frage war „Kann er das überleben?“ Und dann entkorkte (bitte auf den Kommentator achten, natürlich sagt er es) Wilfried Dietrich diese unglaubliche Nummer:

 

Tja, was soll man dazu sagen? Der Zorn des Kran?

[tags]Gänsehaut, Olympia, Wilfried Dietrich, Chris Taylor, München, Ringen[/tags]

Goldwyn-Medaille

Hm. Heute fangen nun die olympischen Spiele an. Soso. Wenn ich dran denke, was ich früher wegen Olympia für einen Aufriss gemacht habe: Wochenlang vorher den Zeitplan gewälzt, sämtliche Termine auf die sportlichen Events abgestimmt („Freitag abend kann ich auf keinen Fall, da ist Weitsprung!“), sich mit den Regeln obskurer Sportarten auseinander gesetzt („Gibt es beim Synchronschwimmen eigentlich auch Fouls?“) und – wenn‘s dann endlich losgegangen ist – bin ich wochenlang vorm Fernseher kleben geblieben und wurde mit unvergesslichen Momenten belohnt, von monumentalen Heldentaten (Baumann in Barcelona!) bis zu zwerchfellerschütternden Fehlleistungen (Immer wieder Jürgen Hingsen!).
Heute geht‘s wieder los. Hm. Offengestanden gehen mir die Spiele diesmal sowas von am Arsch vorbei… Warum soll ich irgendwelchen wandelnden Apotheken zugucken, die sich von gewissenlosen Funktionären an ein Unrechts-Regime verschachern ließen, das sein lädiertes Image aufpolieren will? Ja, ich weiß, ganz bestimmt tue ich irgendwem Unrecht, ganz bestimmt kann Politik nicht Sache der Sportler sein, ganz bestimmt ist es vollkommen korrekt und sinnvoll, sich vier Jahre lang auf dem Trainingsplatz den Arsch aufzureißen und sich anschließend einen Dreck drum zu scheren, wo man seine Leistung bringt, weil die geschätzten Funktionäre, die einem ja gern das Denken abnehmen, schon dafür sorgen werden, dass „alles seine Richtigkeit hat“. Und natürlich werden diese ganzen Mollusken, die noch nicht einmal wissen, was das Wort „Rückgrat“ bedeutet, von einer Sportpresse sekundiert, die schon längst den journalistischen Offenbarungseid geleistet hat, und nicht mehr über Sport berichtet, sondern ein Produkt verscheuert, für das ihre Arbeitgeber sehr viel Geld bezahlt haben.
Nee. Diesmal bin ich nicht interessiert. Um den unsterblichen Sam Goldwyn zu zitieren: „Include me out.“

[tags]Olympische Spiele[/tags]

Die tiefste Grotte

Eine ganze Weile lang hab ich für ein Theater in einer süddeutschen Stadt, nennen wir sie S., Kabarettprogramme und Texte geschrieben. Der Leiter dieses Theaters, nennen wir ihn Herrn W., hatte einen liebenswürdigen Spleen: Für Menschen, in deren Vertrag stand, dass er für deren Hotelaufenthalt in besagter süddeutschen Stadt aufzukommen habe, suchte er gern Häuser aus, die sein Budget nicht allzu sehr belasteten. Er scheute wohl die Kosten, aber nicht die Mühen, denn die Häuser, die Herr W. für seine Künstler auswählte, findet man nicht in Allerwelts-Reiseführern. Nach derartigen Perlen der Hotellerie, die ihre Gäste nicht mit hochwertiger Einrichtung oder zuvorkommendem Service irritieren wollen, die sich ausdrücklich an „preisbewusste Reisende, die einen sportlichen Komfort bevorzugen“ wenden und keine Zugeständnisse an einen oftmals flüchtigen Zeitgeist („Wer braucht denn ein WC auf dem Zimmer? Nachts wird geschlafen, nicht gepieselt!“) machen, muss selbst der Kenner lange suchen. Herr W. trieb sie unfehlbar auf, und so sind mir die Häuser, in denen ich auf seine Kosten nächtigte, unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Doch eins von ihnen ragt auch noch jetzt, über 5 Jahre, nachdem ich zuletzt in ihm genächtigt habe, über die anderen Geiz-ist-geil-Domizile hinaus: Das Hotel R., die Absteige aller Absteigen, die Mutter aller Bruchbuden.
Es begann damit, dass ich am späten Sonntagnachmittag ankam und vor verschlossener Türe stand. Hervorquellenden Auges las ich das Schild am Eingang: „Rezeption täglich von 8 bis 18 Uhr besetzt, Sonntags Ruhetag“. Soso. Gut zu wissen. Und ganz schön pfiffig, die ganze Unternehmensphilosophie in 10 Worten zusammengefasst an die Tür zu schreiben. Trotzdem: irgendwie musste ich ja mein Zimmer beziehen… und da entdeckte ich diesen kleinen Zettel, der in der verschlossenen Eingangstür klemmte. Da stand mein Name und eine Telefonnummer drauf, unter der ich den Regisseur des Kabarett-Programms erreichte, an dem ich gerade schrieb. Der musste auf Geheiß von Herrn W. und der Hoteldirektion meinen Zimmerschlüssel bereit halten und war darob etwas missgestimmt. Hatte sich die Tätigkeit als Regisseur wohl anders vorgestellt. Typisch Kunst-Fuzzi. Egal, Hauptsache, ich war drin.
An der Aufzugtür hing noch ein Schild („Den Lift nach 18 Uhr und sonntags nicht benutzen!“), das ich souverän ignorierte. Mein Zimmer lag im dritten Stock, mein Koffer war schwer und der Regisseur schützte einen Bandscheibenvorfall vor. Also hinein in den Lift. Drinnen wusste ich, warum draußen das Schild hing. Drinnen hing nämlich noch eins: „Wenn er steckenbleibt, keine Panik. Am Notschalter dreimal hintereinander schnell ein- und ausschalten, bis zehn zählen und wieder einschalten. Dann geht er meistens wieder.“
Wie durch ein Wunder erreichte ich unfallfrei mein Zimmer, wo mir die Tränen der Rührung in die Augen traten. Die Hoteldirektion hatte extra für mich ein Zimmer ausgewählt, das in meinem Geburtsjahr tapeziert und möbliert worden und seitdem von keines Handwerkers Hand mehr angerührt worden war! Gleiches galt übrigens auch für die Etagen-Toilette, die niemand vergessen kann, der sie jemals gerochen hat.
Am nächsten Morgen durfte ich dann ein weiteres Highlight des R. erleben, die Frühstücksdirektorin. Noch mit den üblichen morgendlichen Nebeln kämpfend hatte ich mich im halbwachen Zustand in den Frühstücksraum geschleppt, war an einem Buffet vorbeigestolpert, auf dem die Salami vor sich hin schwitzte und der Käse gegen die ihn gefangen haltende Plastikhülle drängte, und hatte mich in einen freien Rattan-Stuhl geworfen. Ích war der einzige Gast im Frühstücksraum. Wie friedlich. Wie entspannend. Nur noch fünf Minütchen die Augen schließen… „Gute Morge, was derfit Ihna bringa?“ Die Trompeten von Jericho waren ein Scheißdreck gegen das Organ der Frühstücksdirektorin. Es ist das Privileg der angejahrten Schwäbin, aggressiv schreiend fisteln zu können, und die Frühstücksdirektorin nutzte dieses Privileg bis zum Exzess. Mit einem enervierenden Klingeln im Ohr, das den ganzen Tag nicht vergehen wollte, orderte ich Kaffee und „ein weiches Ei, aber bitte wirklich weich, allerhöchstens 3 Minuten“. Ich Optimist. Zusammen mit dem Kaffee, an dem ich mir gottserbärmlich die Zunge verbrannte, servierte mir die Frühstücksdirektorin Service-Interna: „Des Ei bring i Ihne, wenn’s fertig is.“ Das sind natürlich Insider-Informationen, die einen morgens um acht entscheidend weiterbringen. Und wenig später brachte sie mir mit heimtückischem Grinsen ein knallhartes Ei mit grünem Dotter, dessen Aggregatzustand sie mit einem gellend hervorgestoßenen „En gutes Ei braucht 5 Minute!“ erläuterte. Eine brave Frau, die wusste, was gut für ihre Gäste ist und ihnen konsequent in lebenswichtigen Fragen wie der Salmonellenvorsorge kein Mitspracherecht einräumte!
Im Verlauf des Tages musste ich verwundert feststellen, dass das Hotel R. nicht vorsah, dass seine Gäste tagsüber in ihren Zimmern weilten. Die Heizung hatte sich um 7 Uhr abgestellt, und sie blieb aus. Meine Bitte um ein wenig Wärme beschied die mittlerweile anwesende Rezeptionsangestellte abschlägig: „Wegen Ihnen geht die Fernheizung nicht an.“ Nun ja, ich gestehe es ungern, aber die Kälte hatte auch ihr Gutes: Ich erledigte mein tägliches Schreibpensum notgedrungen schnell und diszipliniert, um geheizte Räumlichkeiten aufsuchen zu können. Und um dem Hotel R. entfliehen zu können. Hätte Herr W. mich auch nur ein bisschen besser bezahlt, hätte ich mir auf eigene Kosten ein anderes Hotel genommen. Aber Herr W. gab für seine Künstler nicht viel mehr Geld aus als für ihre Hotelzimmer.
Am letzten Abend im Hotel R. hatte ich mir eine Flasche anständigen Rotwein mit aufs Zimmer genommen, mit der ich meinen bevorstehenden Abschied feierte, als gegen 23 Uhr Türenschlagen und laute Stimmen vom Hotelparkplatz meine Aufmerksamkeit weckten. „Ich fass es nicht, der W. hat uns wieder in dieses Dreckloch gesteckt!“ wetterte der Frontmann einer Berliner Kabarettgruppe, der aus seinem Auto stieg. „Erst brenn ich das Drecksloch ab, und dann bring ich den W. um!“
„Ich helf bei beidem gern!“ rief ich dem Kollegen aus dem Fenster zu, der daraufhin erfreut zu mir ins Zimmer eilte und mir beim Rotweintrinken half. Am nächsten Tag verschlief ich prompt, weil der vereinbarte Weckruf der Rezeption ausgeblieben war. „Das ist nicht meine Schuld. Ich hab fünfmal in Zimmer 11 angerufen, Sie sind nicht drangegangen!“ Konnte ich auch nicht. Ich hatte Zimmer 12.

[tags]Hotelhölle, Service-Inferno, Lohndumping[/tags]

West-Berlin

Wenn mich jemand fragt, wie das in „West-Berlin“ war, dann erzähl ich gern, wie ich den Fall der Mauer erlebt habe. Also, am 9. November 1989 war ich im Theater, im Freien Schauspiel in der Neuköllner Pflügerstr. Dort wurde „Rotes Koma“ gespielt, ein Musical, zu dem ich das Libretto geschrieben hatte (die Musik hatte der unvergleichliche Ulrich Güldner komponiert) und in dem ich eine kleine Rolle (einen ausgeklinkten Theaterwissenschaftsstudenten im 23. Semester namens Max Reinhardt) spielte. Es war ca. 19 Uhr 15, die Mauer war seit einer Viertelstunde offen, was keiner von uns wusste. Wir schminkten uns und sprachen über die bevorstehende Vorstellung. Was man halt im Theater so redet, eine Viertelstunde bevor der Lappen hochgeht.
Da wurde ich ans Telefon gerufen und ging etwas unwillig ins Büro. Was konnte denn kurz vor der Vorstellung so wichtig sein, dass man mich im Theater anruft? Eine schlechte Nachricht konnte es ja nicht sein, damit werden Schauspieler ja bis nach der Vorstellung verschont, was war denn so dringend? Die geduldigste Gemahlin von allen teilte es mir mit: „Die Mauer ist offen.“
Öha. Rums. Doll. Während Calli Calmund schon auf dem Weg war, um Andreas Thom nach Legokusen zu lotsen, brauchte ich noch ein, zwei Minuten, um das zu begreifen. Nuja, sachte ich dann, wird sich das Leben jetzt wohl grundlegend ändern. Schön, in so spannenden Zeiten zu leben. Ich ging zurück in die Garderobe, hob meine Stimme und verkündete: „Die Mauer ist offen.“
Ich will verdammt sein, wenn auch nur ein Puderquast für einen Sekundenbruchteil still gehalten worden wäre. „Ach ja?“ sagte Jürgen H. wenn ich mich recht entsinne. Stefan N. merkte wohl, dass ich eine andere Reaktion erwartet hatte, sagte dann: „Tolle Sache, Chris, wirklich, aber meinst du nicht, dass meine Pointe in der Rosa-Szene besser kommt, wenn ich ’nur‘ statt ‚Idee‘ betone?“ Bevor ich antworten konnte, wurden wir von Beate P. unterbrochen: „Ich bin sehr unzufrieden mit meinem vorletzten Auftritt. Ich brauche da einfach zwei, drei Sätze mehr…“
Immer wenn ich irritiert bin, habe ich eine gewisse Tendenz, mich zu wiederholen. Ich wandte mich erneut ans Ensemble und rief: „Ich bin mir nicht sicher, ob das jeder mitgekriegt hat, DIE MAUER IST WEG!“
Nikola J. schaltete sich ein. „Jaja, schon gut, sag mal, muss ich heute im Finale unbedingt das hohe C singen? Ich bin etwas belegt, und wenn ich stattdessen eine Terz tiefer… das merkt doch keiner…“
Ja, genauso war West-Berlin. Ein Haufen Schauspieler, die nur die nächste Vorstellung im Sinn hatten. Das hatte natürlich eine gewisse sympathische Unaufgeregtheit was historische Momente anbelangt zur Folge, war andererseits aber durchaus ein bißchen irritierend. Wie dem auch sei,der West Rest ist Geschichte.

[tags]Mauer, 1989, West-Berlin[/tags]

Sag mir, wo die Raucher sind…

Morgens am Nollendorfplatz steig ich immer vom Bus in die U-Bahn, und wenn ich an der Fußgängerampel stehe, sehe ich die Raucher aus dem U-Bahnhof kommen, die sich hastig eine Zigarette anstecken. Es sind in den letzten Jahren deutlich mehr „Outdoor-Raucher“ geworden, kein Wunder, in diesem ärmlichen Land, wo alles und jedes reglementiert werden muss, gibt es ja kaum noch Orte, wo drinnen geraucht werden darf.
Okay, mich betrifft es nicht mehr, ich hab vor fünf Jahren den Absprung geschafft, aber heute ist mir etwas sehr merkwürdiges aufgefallen: Ich habe kaum noch Raucher in meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Ich glaube nicht, dass das an mir liegt, denn ich bin keinesfalls zum militanten Nichtraucher mutiert. Wer möchte, darf mir jederzeit die Bude zuquarzen, hab ich kein Problem mit, man kann ja schließlich lüften. Auch befinde ich mich nicht auf einem Kreuzzug gegen den Nikotingenuss und versuche jeden Raucher, den ich erblicke, zum Aufhören zu bewegen. Ich bin – glaube ich – mehr oder weniger der gleiche, der ich vor fünf Jahren war, nur einfach minus Zigaretten. Tatsächlich haben aber sehr viele, beinahe alle Raucher, die ich vor fünf Jahren noch regelmäßig getroffen habe, peu á peu den Kontakt zu mir einschlafen lassen.
Woran mag das liegen? Hab ich mich doch stark verändert, ohne es zu merken? Ertragen meine rauchenden Freunde es nicht, einem gegenüber zu sitzen, der „vom Glauben“ abgefallen ist? Oder ist es einfach bloß Zufall, und es steckt nix dahinter?
[tags]Freunde, Raucher, Nichtraucher[/tags]

Das Telefonbänkchen im Flur

Vorgestern sah ich in der Kreuzbergstraße eine junge Frau, die telefonierte. Gleichzeitig versuchte sie, sich ihre Jeansjacke anzuziehen, ein Bonbon aus dem Papier zu wickeln und irgendwie ihre Umhängetasche irgendwo abzustellen, um noch eine Hand frei zu bekommen. Sah aus wie der Versuch, die Laokoongruppe als Solo-Performance nachzustellen. Großes Kino. Multi-Tasking am Telefon.
Da musste ich plötzlich an das Telefonbänkchen meiner lieben Mutter denken. Ja, meine Mutter hatte ein Telefonbänkchen. Das stand bei uns im Flur. Nicht im Wohnzimmer, denn im Wohnzimmer hat man miteinander geredet, gelacht, getrunken, das Wohnzimmer gehörte der Familie und den Freunden, der Rest der Welt und die Kommunikation mit ihm fanden außerhalb des Wohnzimmers statt, und deshalb standen das Telefon und sein Bänkchen im Flur.
Wenn ich meine Mutter angerufen habe, dann wusste ich, dass sie auf dem Bänkchen im Flur sitzen würde, wenn sie mit mir sprach. Ein Päckchen ihrer Zigaretten und ein Feuerzeug lagen immer griffbereit neben dem Telefon, so dass sie stets auch auf ein längeres Gespräch vorbereitet war. Und das wirklich schöne daran war, war, dass meine Mutter, wenn sie mit mir telefonierte, nichts anderes machte, als mit mir zu telefonieren. Sie führte ein Gespräch mit mir, sonst nichts. Nicht zuletzt deshalb waren das fast immer sehr gute Gespräche, die ich heute, über 16 Jahre nach ihrem Tod, immer noch sehr vermisse.
Wenn ich heute mit anderen Menschen telefoniere, machen sie alles mögliche, während ich mit ihnen spreche. Sie laufen durch Büro und Wohnung, räumen das Geschirr ein, kümmern sich um ihre Kinder, schlagen irgendwas im Internet nach, fragen mich, was ich gerade gesagt habe, weil sie mir nicht richtig zugehört haben… Ich will mich nicht beschweren. Ich mach ja das gleiche.
Aber ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob das so richtig ist mit dieser Multitasking-Kommunikation. Vielleicht wäre so ein Telefonbänkchen eine vernünftige Anschaffung.
[tags]Telekommunikation, Menschenwürde[/tags]

Doc Hollidays Abschied

Gestern kam bei Thomas Knüwer irgendwie die Rede auf den klassischen Schundroman, und in der Netzecke brachte Fressack Jerry Cotton ins Spiel. Das brachte prompt den Erinnerungsapparat, den ich zwischen meinen Ohren mit mir herum trage, auf Touren, und der förderte die BSAZ (Beste Schundromanserie aller Zeiten) zurück in mein Bewußtsein. Nein, nicht Perry Rhodan. Ich war zwar ein großer Bewunderer des Großadministrators (bis er sich in einem Gegen-Universum von irgendeinem pangalaktischen Schleimklumpen zum „Ritter der Tiefe“ schlagen ließ, aber das ist eine andere Geschichte), aber für den Titel langt es nicht. Nein, auch nicht „Die Fledermaus“, obwohl sie mir schon wegen der Chuzpe Bewunderung abnötigte, mit der man bei Batman abkupferte sich von amerikanischen Comics inspirieren ließ. Lassiter, der immer „ein Ziehen in den Lenden“ verspürte, wenn er eine Frau sah, war natürlich ebenfalls zu beachten, aber der König der Schundromane war, ist und bleibt für mich: Doc Holliday!
Doc wer? Okay, zugegeben, wie viele meiner Vorlieben ist auch meine liebste Schundromanreihe ein bisschen obskur. „Doc Holliday“ hießen die Heftromane, die zuerst Anfang der 60er Jahre im Kelter Verlag veröffentlicht wurden. Nach 36 Heften fand die Serie ein ebenso frühes Ende wie der Doc selber, den die Tuberkulose ja ebenfalls mit 36 Lenzen dahinraffte. Wobei hier wohl kein pfiffiges verlegerisches Marketing vorlag, sondern schlichtweg das Desinteresse der damaligen Leserschar. Was mich einen Deubel scherte. Ich las die Teile nicht, als sie Ende der 60er Jahre in Neuauflage erschienen, ich verschlang sie. Alle 36 Hefte. Wenn der Doc sich röchelnd vom Spieltisch erhob, um dem nächsten Idioten, der glaubte, schneller ziehen zu können als er, seinen Irrtum nachzuweisen, kannte meine Bewunderung keine Grenzen. Und Schlag bei Frauen hatte er auch noch. Toller Kerl! Oder, wie Wyatt Earp einmal sagte:

Doc was a dentist whom necessity had made a gambler; a gentleman whom disease had made a frontier vagabond; a philosopher whom life had made a caustic wit; a long lean ash-blond fellow nearly dead with consumption, and at the same time the most skillful gambler and the nerviest, speediest, deadliest man with a gun that I ever knew.

Doch das Ende des letzten Hefts verstörte mich ein wenig. Um genau zu sein, nicht das Ende der letzten Doc-Holliday-Geschichte, sondern die sich anschließende editorische Notiz des Kelter Verlages (aus dem Gedächtnis zitiert):

Dies ist das vorläufig letzte Abenteuer in dieser Romanreihe. Denn Doc Holliday muss erst wieder in den Westen reiten und neue Abenteuer erleben, damit wir von ihnen berichten können.

Irgendetwas ist in mir zerbrochen, als ich diese Sätze las. Vielleicht das Raum-Zeit-Kontinuum?
[tags]Doc Holliday, Schundroman, Pulp[/tags]

Zum Saisonauftakt: Erinnerungen an den Bomber, der keiner war

Unsinnigerweise pflegte und pflegt die Boulevardpresse ihn immer als „Bomber“ zu bezeichnen. Dieser Begriff wird seiner Art, Fußball zu spielen und vor allen Dingen seiner unnachahmlichen Art, Tore zu erzielen, nicht im entferntesten gerecht. Die mit Urgewalt förmlich ins Tor hineingedroschenen Bomben waren seine Sache nun gar nicht. Er war ein Strafraumspieler von unglaublicher Beweglichkeit, der den Ball behaupten konnte, auch wenn er von mehreren Gegenspielern attackiert wurde. Diese engen, unübersichtlichen Situationen suchte er geradezu. Wenn es im Strafraum ein Getümmel gab, war er meist mittendrin, und irgendwann kullerte der Ball aus dem Getümmel heraus über die Tor-Linie. Typisches Müller-Tor!
Bei seinen Aktionen hatte er meist auch gar nicht die Zeit, dem Ball eine größere Wucht mitzugeben. Meist gelang es ihm, im Zweikampf ein paar entscheidende Millimeter zu gewinnen, so dass er gerade noch mit einer Schuh- oder Haarspitze an den Ball kam und ihn so irgendwie über die Torlinie schummelte. Typisches Müller-Tor!
Seine eigentliche Stärke aber war, dass er sich nicht umdrehen musste. Das wird bei seinem berühmtesten, vielleicht seinem wichtigsten Tor deutlich, dem 2:1 im 74er Finale gegen Holland. Er nimmt den Ball mit dem Rücken zum Tor an und schießt ihn eine hunderttausendstel Sekunde später frontal in die Kiste. Auch in der Superzeitlupe sieht man nicht, wie er sich umdreht. Er steht mit dem Rücken zum Tor und plötzlich steht er anders rum da, ohne sich umgedreht zu haben. Man sieht es an der verzögerten (Nicht-) Reaktion des Torhüters Jongbloed, der gar nicht damit gerechnet hat, dass jemand aus dieser Situation heraus einen Torschuss realisieren könnte. Der muss sich doch erst umdrehen… Müller musste dass nicht, er konnte sich umdrehen, ohne sich umzudrehen. Typisches Müller-Tor!
Was man im Stadion deutlicher ausmachen konnte als vor dem Fernseher: Müller hatte einen unglaublichen Spaß am Fußballspielen. Er liebte den Doppelpass und konnte sich über einen gelungenen Spielzug genauso freuen wie über ein Tor. Und er war – was man heutzutage bei Profikickern immer seltener findet – von einem brennenden Ehrgeiz besessen. Er fightete von der ersten bis zur letzten Minute, und wenn die Bayern mal zurücklagen oder gar verloren, dann ärgerte er sich schwarz. Unsinnigerweise hat man ihm zu seiner aktiven Zeit des öfteren Defizite im fußballtechnischen Bereich vorgeworfen. Das war natürlich Quatsch. Unorthodox konnte man sein Spiel, seine Bewegungsabläufe vielleicht nennen. Wäre er technisch limitiert gewesen, hätte er den Catenaccio-Königen im Jahrhundertspiel nicht zwei Tore einschenken können. Dann wäre er nicht der „Bomber“ Müller gewesen. Der er ja auch gar nicht war.

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[tags]Fußball, Nostalgie, FC Bayern, Müller, Jahrhundertstürmer[/tags]